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Pathos der Distanz – die Etablierung der zentralen Hofloge im Theaterbau (1600–1750)
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Mittelloge mit der commodité einer vergitterten Inkognitologe zu versöhnen. Es ist
müßig zu diskutieren, wie weit diese Unsichtbarkeit des Königs – nicht nur im Thea-
ter – in der Krise des Ancien Régime die Revolution begünstigt hat, zweifelsfrei bleibt,
dass die überlebenden Monarchien sich nach 1789 nur durch gezielte Öffentlichkeit,
gerade im Theater, wieder zu stabilisieren suchten.
Zwei gegensätzlich pointierte Zitate aus dem kritisch grundierten Genre der Rei-
seliteratur verklammern die im Laufe unseres Untersuchungszeitraums grundsätzlich
veränderten Ansprüche an das öffentliche Auftreten des Souveräns im Horizont ihrer
nach 1789 meist konstitutionell eingeschränkten Herrschaft.
Mit olympischer Distanz und leiser Wehmut spürte Goethe im Tagebuch der Italieni-
schen Reise einer vormodernen Praxis nach, wenn er den bucentoro, die Prachtgaleere des
Dogen dafür lobt, »die Häupter der Republik am feierlichsten Tage zum Sakrament ihrer
hergebrachten Meerherrschaft102 zu tragen. Das Schiff ist ganz Zierrat,
[…] ganz vergul-
detes Schnitzwerk, sonst zu keinem Gebrauch, eine wahre Monstranz, um dem Volke
seine Häupter recht herrlich zu zeigen,
[…] das Volk will auch seine Obern prächtig und
geputzt sehen«.103 Ganz anders erlebte Lady Marguerite Blessington wenige Jahrzehnte
später die hermetische Ausgrenzung des Monarchen aus dem jetzt raisonnierenden Pub-
likum als schleichende Privatisierung der Höfe, die dem »Pathos der Distanz« ihrer über-
lieferten Zurschaustellung zum Opfer fielen. Die piemontesische Königsfamilie im Teatro
Falcone (1823) in Genua war in ihrer Erscheinung
– die Männer in schlichten Uniformen,
die Frauen in Reformkleidern statt Gala – nicht mehr auf der Höhe des sie rahmenden
Dekors: »They looked too simple for their splendid frames, in which they were enshri-
ned, like opaque stones set in diamonds«.104 Die Hofloge war zum goldenen Schrein
geworden, ihre Bewohner zu Gefangenen in ihrer splendid isolation, zuletzt eher mumi-
fizierten Relikten, nachdem sich das Moment jener bannenden sakralen Aura göttlicher
Legitimität verflüchtigt hatte, mit deren Hilfe sich Herrscher, anders als einst Ranuccio
Farnese im Parmenser Theater, nicht mehr in triumphaler Geste das Publikum unterwor-
fen, sondern sich von ihm isoliert hatten. Im unbestechlichen Blick der englischen Lady
wird der von Berns beschriebene Säkularisierungsvorgang105 scharfsichtig kommentiert.
Erst dieser Prozess erlaubte verstärkt die Verschiebung religiöser Wirkungspotenzen auf
die Bühne, ihre szenische Aktion, ihre theatralischen und musikalischen Kunstmittel
sowie deren inbrünstige Rezeption durch das Publikum im zur Kunstreligion gesteiger-
ten bürgerlichen Musiktheater des 19.
Jahrhunderts. Eine Epiphanieloge gegenüber dem
mystischen Abgrund in Wagners Bayreuther Festspielhaus ist undenkbar geworden.
102 Der Ausdruck bezieht sich auf den alljährlich am Himmelfahrtstag rituell wiederholten Akt des sog.
sposalizio del mare.
103 Goethe 1976, Bd. 1, S. 106.
104 Blessington 1839, S. 190.
105 Berns 1982, S. 343–344; Steinacker 2014.
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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
Hof – Oper – Architektur
- Title
- Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
- Subtitle
- Hof – Oper – Architektur
- Authors
- Margret Scharrer
- Heiko Laß
- Editor
- Matthias Müller
- Publisher
- Heidelberg University Publishing
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-947732-36-4
- Size
- 19.3 x 26.0 cm
- Pages
- 618
- Keywords
- Kunstgeschichte, Architektur, Oper, art history, architecture, opera
- Category
- Kunst und Kultur