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derPlausibilität der historischenNarrationen als auchdieAnalyse der bereits
zuvor als relevant angesprochenen Funktionen dieser Erzählungen im Ge-
schichtsbewusstsein der Gesellschaft. Beide Aspekte erscheinen relevant, um
Geschichtsmythen identifizierenzukönnen.
AusgeschichtsdidaktischerPerspektivekanneinGeschichtsmythos–ineiner
erstenAnnäherung–alseineinderGesellschaftbekanntehistorischeNarration
verstandenwerden,deren»Wahrheitsgehalt«mehroderminderanerkannt ist,45
deren Plausibilität bei näherer Betrachtung aber zugleich als problematisch
erscheint. Als geschichtstheoretischeKriterien, umdie Plausibilität vonhisto-
rischen Narrationen einschätzen zu können, bieten sich Jörn Rüsens Triftig-
keitskriterien46an.Erunterscheidetzwischenderempirischen,normativenund
narrativen Triftigkeit, wobei eine historische Narration dann als (vorläufig)
»wahr«imSinnevonplausibelangesehenwerdenkann,wennalledreiKriterien
alserfülltanerkanntwerden.EinehistorischeNarrationkann–grobgesprochen
–dannalsplausibel gelten47,wennsie a)nicht imWiderspruchzudenRezipi-
entenbekanntenQuellenaussagensteht (empirischeTriftigkeit),wennb)die in
der Erzählung vorhandene Sinnbildung und Identitätspräsentationunddamit
die ausderBeschäftigungmit derVergangenheit gewonneneOrientierung zu-
stimmungsfähigist(normativeTriftigkeit)undwennc)derSinnzusammenhang
zwischenerzähltenEinzelheitenausderVergangenheit undSinnbildungen für
die Zukunft unddamit die LeitfädenderNarrationplausibel erscheinen (nar-
rativeTriftigkeit).48 InderGesellschaft als »wahr« anerkanntehistorischeNar-
rationenkönnendemnachGeschichtsmythensein,wenn
a) die in ihr gemachtenAussagen imoffensichtlichenWiderspruch zuhistorischen
Quellen stehenoder rein fiktivLücken füllen, zudenen eskeinerleiQuellen gibt,
sodass ihreBegründbarkeit nichtmehr gegeben ist. Eine solchehistorischeNar-
rationkannwegen ihrermangelndenempirischenTriftigkeit alsMythosbezeich-
netwerden;
b) die in der Erzählung angebotene Sinnbildung als nicht (mehr) nachvollziehbar
erscheint.SokönnengesellschaftlichanerkannteOrientierungenzueinemMythos
werden, wenn eine Sinnbildung zwar in der Vergangenheit breite Zustimmung
erfuhr,dieseabernichtmehrvorzufindenist,weil sichdienormativenHorizonte,
45 DasichMythenaufRealitätenbeziehen,werdensieals»wahreGeschichten«rezipiert.Vgl.
dazuMirceaEliade,MythosundWirklichkeit, 16.
46 Jörn Rüsen, Grundzüge einer Historik, Teil: 1., Historische Vernunft : d. Grundlagen d.
Geschichtswissenschaft,Göttingen:Vandenhoeck& Ruprecht, 1983, 85–116.
47 ÄhnlicheKonzeptionengibt esbei anderenTheoretikern. FürRüsensArbeitenbedeutend
warHermannLübbe,GeschichtsbegriffundGeschichtsinteresse.AnalytikundPragmatikder
Historie, Basel: Schwabe, 1977.
48 Jörn Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien historischenDenkens, Frankfurt amMain: Fischer,
1990 (2.AuflageFrankfurt amMain:DigitalHumanitiesonline, 2012), 98.
RolandBernhardetal.20
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher