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»entzaubern«, denn Mythen gelten noch weithin als unvereinbar mit einem
aufgeklärtenWeltverständnis.Doch trifft das tatsächlich zu? So schwierig,wie
unseingangsdieDefinitiondesMythosbegriffs fiel, soschwierigdürfteessein,
seinenGegensatz zu definieren.Wäre diesWissenschaft? Rationalität?Wahr-
heit? Kultur? Jeder dieser in der Literatur überMythen immer wieder unter-
breitetenVorschläge istunbefriedigend,dakeinerdieserBegriffeohneMythen
auskommt.DieAufklärung, die in ihmdie Finsternis derAbgötterei erblickte,
stellthinsichtlichdesMythosnur sehrbedingt eineZäsurdar.59Spätestens seit
Hayden White wurde uns wieder in Erinnerung gerufen, dass Geschichts-
schreibung doch nicht lediglich Wissenschaft ist, wie sie gern von sich be-
hauptet, sondern immer auch eine Kunst, in der Fiktionen undMythen eine
wichtige Rolle spielen. Auf rein rationaler Grundlage, d.h. ohne ergänzende,
sinnbildendeImagination,diezweifellosetwasmitFantasieundalsomitFiktion
zutunhat, isteinNachdenkenüberGeschichteschlichtnichtmöglich.Undauch
das Bedürfnis nachMythen ist keineswegs erloschen undwird auch nie erlö-
schen, daMythen offenbar zur conditio humana gehören.VordiesemHinter-
grund hält OdoMarquard die Geschichte des Prozesses der Entmythologisie-
rung– für einenMythos, nämlichden»Mythenbeendigungsmythos«.60
Was also passiert, wenn man in Schulgeschichtsbüchern Mythen de-kon-
struiert?EinerseitsgewinntmandadurchvielleichttatsächlichtiefereEinsichten
inihrWesen, ihreEntstehungsbedingungenundFunktionen.Dochandererseits
haucht man ihnen damit auch wieder neues Leben ein. Denn Mythen sind
–abgesehen von ihrem wandelbaren Äußeren, d.h. den 1001 Versionen, in
denenmansie erzählenkann, – in ihremhochbeständigenKern61die archety-
pischeMatrixvonGeschichten,dieeineBotschaft62mitstarkemAppellcharakter
enthält.Auchwennsiebereits längst leblos scheinen, vermögensie,wennman
an ihnen rührt oder wenn sich die Umstände entsprechendwieder ihnen zu-
neigen,unversehenswiederPhönixausderAschezuerstehenundumsicheine
neue,mobilisierendeErzählungzubilden.63GeradedienationalenMythen,die
indenSchulgeschichtsbücherntypischerweiseaufgegriffenwerden,dadieZeit
desNationalismus alsüberwundengilt, sindheute noch längst nicht ganz tot.
Wenn niemand sie nicht zumindest imKern kenne, wenn Schulbuchautoren
59 »KeinWerk […] legt von der Verschlungenheit von Aufklärung undMythos beredteres
Zeugnis ab als dashomerische, derGrundtext der europäischenZivilisation.«;MaxHork-
heimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente
(1944), Frankfurt amMain:Fischer, 21.Auflage2013, 52.
60 Marquard,Polytheismus, 223und230.
61 HansBlumenberg, »Arbeit amMythos« (1979), in:Mythentheorie, 194–218, 194.
62 RolandBarthes, »MythendesAlltags« (1957), in:Mythentheorie, 91–105, 92.
63 Jean-JacquesWunenburger, »Mytho-phorie. Formen und Transformationen desMythos«
(1994), in:Mythentheorie, 290–300, 299.
RolandBernhardetal.24
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher