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auch damals schon demKontinent gegenüber kritisch eingestellt waren, der
liberale Denker John StuartMill (1806–1873) urteilte: »Die Schlacht vonMa-
rathon ist selbst als ein Ereignis der englischen Geschichte wichtiger als die
Schlacht von Hastings.«23 Es kann also nicht verwundern, wenn deutsche
Schulbüchereinemindestens ebensobedeutsameBewertungvornahmen.
Mit implizitemBezugaufHerodotbezeichnetedasLehrbuchderGeschichte
der Völker und Staaten des Alterthums (1824) die Schlacht vonMarathon als
»weltwichtigenKampfderFreiheitmitderKnechtschaft.«24Erstaunlichoffenim
Geist des Vormärz, der wenig Sympathien für »Großkönige« gehabt haben
konnte, ist dort die Rede von »einerHandvoll republikanischerHelden, unter
ihremvonFreiheitundVaterlandbegeistertenMiltiades,[die]beiMarathondie
persischenVölkermassenzurückwarfen.«25ObwohlfreiheitlicheStimmennicht
gänzlichverstummen,gewannennach1848jeneanEinfluss,diedieDemokratie
negativbewerteten. FriedrichZurbonsen stellt beispielsweise inDasAltertum,
Band1 (1895)dieFrage:
Welche hervorragendenAthener sind imUnglücke gestorben?Miltiades, der Sieger
vonMarathon, verurteilt, an seinenWunden; Themistokles, der Sieger von Salamis,
verbannt, durch Selbstmord; [usw.] –DerGrund ihres Schicksals liegt in demwan-
kelmütigenundeifersüchtigenCharakterderattischenDemokratie.26
NachderReichsgründungverschob sichdieDeutungdesMythos insofern, als
dassdieAthener ihreKraftnichtausderrepublikanischenStaatsform,sondern
ausihrervorgeblichrassischenÜberlegenheitschöpfen.DerPassus:»Sowarder
glorreichsteSiegerrungen, sowardasVaterlanddurchdenstarkenArmseiner
Heldensöhne beschützt vor der Knechtschaft, in welche der Übermut eines
fremden Herrschers es zu stürzen drohte«,27 findet sich in zahlreichen Ge-
schichtsschulbüchern jener Zeit. Während des Ersten Weltkrieges wurde
schließlich besonders derMut derAthener hervorgehoben. Entscheidendwar
jedoch stets, das es nicht nur umAthen ging, sondern vielmehr umganz Eu-
23 Zit. nach:WernerDahlheim,Die griechisch-römischeAntike. Band1Griechenland, Pader-
bornu.a.: Schöningh,3.Auflage1994, 166.
24 Samuel Friedrich August Reuscher, Lehrbuch der Geschichte der Völker und Staaten des
Alterthums, Berlin:Amelang, 1824, 198.
25 Ebd.
26 FriedrichZurbonsen,GeschichtlicheRepititionsfragenundAusführungen.EinHilfsmittelfür
UnterrichtundStudium.ErsterTeil:DasAltertum, Berlin:Nicolai, 3.Auflage1895, 17.
27 KursivvomAutor,z.B.WoldemarDietlein,BilderausderWeltgeschichte.EinHilfsbuchbeim
biographischenGeschichtsunterricht fürLehrerundeinLesebuchfürSchüler,Braunschweig:
FriedrichWreden, 1871, 49; JakobCarl Andrä,Erzählungen aus der griechischen und rö-
mischenGeschichte.EinLehr-undLesebuch fürdenerstenGeschichtsunterrichtanhöheren
Lehranstalten, Leipzig:Voigtländer, 8.Auflage 1895, 56 (zahlreicheNeuauflagenohneÄn-
derungenandiesemSatzbis 1918).
FelixHinz40
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher