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VorallemJacobBurckhardt(1818–1897)wares,derdasBildvonKarlMartellals
»Sieger über den Islam« prägte,59 das uns in den Schulgeschichtsbüchern des
neunzehnten Jahrhunderts entgegentritt.AusdieserZeit stammtauchdieVor-
stellungKarlMartellsalsbuchstäblichdenHammeroderdieAxtschwingenden
Hühnen,die sichausdenQuellennichtbelegen lässt.
Auch in diesemFall wird in den Schulgeschichtsbüchern des neunzehnten
JahrhundertsnichtnurdasFrankenreichgerettet, sonderndasAbendlandund
Europa.Mit denArabernwerdendabei ganz ähnlicheEigenschaftenassoziiert
wie zuvormit denPersern. EinWerk von 1885 schildert, wie dieAraber »mit
einemungeheurenHeere«überdiePyrenäengestiegenseien,»umganzEuropa
ihre Religion und Herrschaft aufzuzwingen«.60 Ein Schulbuch, das ein Jahr
spätergedrucktwurde,betrachtetdieSchlachtgarals»einederwichtigstender
gesamtenWeltgeschichte«.61Einenbemerkenswert nationalenGrund für solch
eineWertung liefert eine Publikation von 1892, die behauptet, dass Karl mit
seinemSiegbeiPoitiers»diechristlich-deutscheKulturvordemIslam«gerettet
habe.62Mansiehthier, dassder siegreicheHausmeier nicht nur (nachvollzieh-
barerWeise)vonfranzösischer, sondernauchvondeutscherSeitevereinnahmt
wurde,wassichbeispielsweiseauchinfolgenderPassageeinesUnterrichtswerks
von 1839 widerspiegelt: »Kühn, in todesverachtender Begeisterung, stürmten
dieAraber, aberunerschütterlichwieMauern,wiedasewigeEisdesNordpols,
standendieDeutschen«.63
DerKampfwirdnun eindeutig imKontext einesHeiligenKrieges gesehen:
»DamalswarendieAraberoderMaureninEuropaeingebrochen,hattenSpanien
erobert undwollten nun auch die Franken unterjochen, umdas Christentum
59 Fischer,KarlMartell, 120.
60 [»VoneinemhessischenSchulmanne«],Bilder aus der vaterländischenGeschichte für hes-
sischeSchulen,Mainz:FranzFrey,1885,20;Ähnlichauch inFrankreich:»Par lavictoirede
Tours,CharlesMartelsauvanon-seulementlaGaulefranque,maisencorel’Europecivilis8.«;
M.L’Abb8Courval,HistoiredeMoyenAge.AL’UsagedelaJeunesse.Paris:Poussielgue1868,
151.
61 JakobWychgram, Lehrbuch der Geschichte für die mittleren und oberen Klassen höherer
Mädchenschulen sowie für Lehrerinnen-Seminare. II. Teil:Mittlere undneuereGeschichte,
Berlin:Hofmann,1886, 19.
62 Richard Schillmann, Schule derGeschichte. 2.Teil: VonAugustus bis zurReformation.Un-
tertertia, Berlin:Nicolai, 1892, 24.
63 Friedrich Nösselt, Lehrbuch derWeltgeschichte für Bürger- und Gelehrtenschulenmit be-
sonderer Berücksichtigung der deutschen Geschichte. Theil 2, Leipzig: Ernst Fleischer,
2.Auflage 1839, 24; In französischen Schulgeschichtsbüchern, die stichprobenartig kon-
sultiertwurden, fand sich keinBeispiel dafür, dass die Frankendezidiert als »Franzosen«
bezeichnetwurden.GleichwohlfungierteKarlMartellauchhieralsRetterFrankreichs;Z.B.
VictorDuruy,Histoire deL’EuropeDuVingtieme si8cle a la fin duXIII (395–1270).Paris:
Hachette 1879, 159: »Mais saplusgrandegloire futd’avoir sauv8 la France.«
DieeuropäischenRettungsmythenMarathon/SalamisundTours/Poitiers 49
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher