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der eineGesellschaft vondenErscheinungenderWirklichkeit spricht, siemit
Bedeutungauflädtundessenzialisiert.19
DermoderneMythosbegriff ist insoferneinweiterBegriff,der vorallemauf
die Funktionen des Mythos abhebt. Mythen wirken sinnstiftend, indem sie
Weltdeutungen bieten, Normen tradieren, Identitätsangebote machen und
Komplexität reduzieren.20MythenschaffendennarrativenZusammenhalteiner
Gemeinschaft und binden die Gegenwart an eine bedeutsame Vergangenheit
zurück. Sie können in diesem Sinne als fundierende Geschichten verstanden
werden und sie können politische Ordnungen bekräftigen. HerfriedMünkler
beschreibt sie als »kognitive und emotionale Ressourcen der Politik«21, deren
Wirksamkeit geradedannerforderlich ist,wennstrukturelleUmbrüche zube-
wältigensind.DieUnterscheidungzwischenGeschichtsmythenundpolitischen
Mythen lässt sichhiernurschweroderallenfalls imHinblickauf ihreFunktion
treffen. So definiert Yves Bizeul politische Mythen als Erzählungen von Ur-
sprüngenoderGründungsakten,diemitder»Heilsgeschichteeinerpolitischen
Gemeinschaft«22 verknüpft sind. Sie habendaher eine sakraleDimensionund
gerade die politischenMythenderNation »erzählen vonderAufopferungsbe-
reitschaft derVorfahren fürdasGemeinwesen.«23Funktional zeichnen sie sich
durch »konstitutive Maßlosigkeit« undÜbersteigerung aus, mit der Mythen
Kräftemobilisieren.24GemeinschaftsstiftendeBedeutungerlangenMythenaber
nur, wenn sie dasMythische nicht nur beschwören, sondernmöglichst vielen
gesellschaftlichenGruppenAnknüpfungspunktezurSelbstvergewisserungbie-
ten.
19 Barthes,MythendesAlltags, 85.
20 MitHansBlumenberg erlaubenMythendasVerstehenvonWirklichkeit unddieDistanz-
nahme gegenüber dem, was alsÜbermacht ängstigt. Arbeit amMythos ist Ringen um
»Bedeutsamkeit« oder Sinngebung; Hans Blumenberg,Arbeit amMythos, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1979; Ferner: RudolfWansing, »Mythos«, in: Nicolas Pethes und Jens
Ruchaz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek: Ro-
wohlt, 2001, 392–393, 392.
21 HerfriedMünkler,DieMythenderDeutschen, Berlin:Rowohlt, 2009, 12.
22 YvesBizeul, »PolitischeMythen«, in:HeidiHein-Kircher undHansHenningHahn (Hg.),
PolitischeMythen im19. und20. Jahrhundert inMittel- undOsteuropa,Marburg:Herder-
Institut, 2006, 3–14, 5.
23 Bizeul,PolitischeMythen, 5.
24 HiersiehtBizeulaucheinUnterscheidungsmerkmal,dasdenMythosvonderUtopieundder
Ideologie abgrenze. Der Mythos entwerfe keine künftige ideale Gemeinschaft, sondern
mobilisiereKräfteunder integrierestärkeralsdieaufSpaltungundReduktionbestehender
Ordnungengerichtete Ideologie;Bizeul,PolitischeMythen,10, 12.
MythosKolonialismus.DieeuropäischeExpansion inAfrika 123
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher