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Kolonialmythos
Der aus der europäischen Expansion entstandene Kolonialmythos kann in
diesemSinnebetrachtetwerden.Er integriertnichtnurdieNation, sonderner
führtDifferenzundKonkurrenz innerhalbundaußerhalbEuropasauf einein-
heitsstiftendesNarrativ zurück. SeineKennzeichen sinddie angenommene zi-
vilisatorischeÜberlegenheitderEuropäerunddiepostulierteZwangsläufigkeit
derModernisierungsentwicklung.DieGeschichteder europäischenExpansion
wird zu einemmythischenGeschehenübersteigert, dasOrdnung schuf, sowie
Fortschritt und Kultur in die vermeintlich rückständigen Gebiete der Welt
brachte.DieEuropäer,soderMythos,musstendieBürdederZivilisierungkraft
ihrerÜberlegenheit aufnehmen. Auf dieseWeise ordnet derMythos das Ge-
schehen ineineGeschichtsteleologie einundhebtKontingenzenauf.
DerKolonialmythosentsprichtdamitdemTypusdes Ideenmythosoderdes
Raummythos, jenachdem,obmanEuropastärkeralsIdeeoderalsRaumfassen
will. Heidi Hein-Kircher hat in ihrer Mythentypologie den Raummythos da-
hingehendbeschrieben, dass erRäumedefiniert oder produziert. Das gilt be-
sonders für Grenzregionen25, die sich als Vorposten der Zivilisation oder wie
Polenals letzteBastionderChristenheit imOsten,alsantemurale christianitas,
verstehen.DerKolonialmythos inszeniert den europäischenRaumalsOrt des
Fortschritts, dessen Grenzen durch das Vordringen der Kolonisation immer
weiter auf unbekanntesTerrainvorgeschobenwerden.26Als Ideenmythos lässt
sichderKolonialmythosbeschreiben,wennmanseinSendungsbewusstsein in
den Blick nimmt und denAbsolutheitsanspruch,mit dem er für die europäi-
schen Ideen von Entwicklung und Modernität universelle Gültigkeit bean-
sprucht.
WodurcherhieltnundieserMythosNahrungundwashatzurMythisierung
dereuropäischenExpansionbeigetragen?AnknüpfendandieFeststellungvon
Roland Barthes, dass für dasMythische nicht der Inhalt ausschlaggebend ist,
sonderndieForm,nähertsichderBeitragdieserFrageausdreiHinsichten,und
25 HeidiHein-Kircher, Ȇberlegungen zu einerTypologie vonpolitischenMythenaushisto-
riographischer Sicht. Ein Versuch«, in: dies. und Hans Henning Hahn (Hg.), Politische
Mythen im 19. und 20. Jahrhundert inMittel- und Osteuropa, Marburg: Herder Institut,
2006, 407–424, 412; Claire Bottici unterscheidet kulturelle und politischeMythen, Claire
Bottici, »Myths of Europe. ATheoretical Approach«, in: Journal of Educational Media,
Memory, and Society, 1 (2009), 9–33; Dies.,Aphilosophy of political myths, Cambridge:
Cambridge University Press, 2007; Dies. und Beno%t Challand, Imagining Europe. Myth,
memory, and identity,Cambridge:CambridgeUniversityPress, 2013.
26 DienordamerikanischeVariantediesesRaummythos ist derFrontiermythosbei Frederick
JacksonTurner,TheSignificanceoftheFrontierinAmericanHistory,NewYork:HenryHolt,
1921 (1893).
SusanneGrindel124
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY
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Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Title
- Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern
- Subtitle
- Von Marathon bis zum Élyseée-Vertrag
- Authors
- Roland Bernhard
- Susanne Grindel
- Felix Hinz
- Editor
- Christoph Kühberger
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-0686-6
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 294
- Category
- Lehrbücher