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Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als
eignes oder fremdes Hypothesenwesen ĂĽber den Ursprung der Moral (oder,
genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen
Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Werth der Moral, – und darüber
hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer Schopenhauer
auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die
Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn
auch jenes Buch war eine »Streitschrift«). Es handelte sich in Sonderheit um
den Werth des »Unegoistischen«, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-,
Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet,
vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schliesslich als die »Werthe an
sich« übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, Nein
sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer
grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier
sah ich die grosse Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und
Verführung – wohin doch? in’s Nichts? – gerade hier sah ich den Anfang vom
Ende, das Stehenbleiben, die zurĂĽckblickende MĂĽdigkeit, den
Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und
schwermĂĽthig ankĂĽndigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende
Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als
das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen
Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-
Buddhismus? zum – Nihilismus?… Diese moderne Philosophen-Bevorzugung
und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über
den Unwerth des Mitleidens waren bisher die Philosophen ĂĽbereingekommen.
Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Rochefoucauld und Kant, vier Geister so
verschieden von einander als möglich, aber in Einem Eins: in der
Geringschätzung des Mitleidens. –
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften