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Genug, dass ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe
hatte, mich nach gelehrten, kĂĽhnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich
thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der
Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter
neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heisst dies
nicht beinahe so viel als dieses Land erst entdecken?… Wenn ich dabei, unter
Anderen, auch an den genannten Dr. RĂ©e dachte, so geschah es, weil ich gar
nicht zweifelte, dass er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere
Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich
mich darin betrogen? Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und
unbetheiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur
wirklichen Historie der Moral zu geben und ihn vor solchem englischen
Hypothesenwesen in’s Blaue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf
der Hand, welche Farbe fĂĽr einen Moral-Genealogen hundert Mal wichtiger
sein muss als gerade das Blaue: nämlich das Graue, will sagen, das
Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die
ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen
Moral-Vergangenheit! – Diese war dem Dr. Rée unbekannt; aber er hatte
Darwin gelesen: – und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise,
die zum Mindesten unterhaltend ist, die Darwin’sche Bestie und der
allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der »nicht mehr beisst«, artig die
Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmĂĽthigen und feinen
Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von ErmĂĽdung
eingemischt ist: als ob es sich eigentlich gar nicht lohne, alle diese Dinge –
die Probleme der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt
gar keine Dinge zu geben, die es mehr lohnten, dass man sie ernst nimmt; zu
welchem Lohne es zum Beispiel gehört, dass man eines Tags vielleicht die
Erlaubniss erhält, sie heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in
meiner Sprache zu sagen, die fröhliche Wissenschaft – ist ein Lohn: ein Lohn
fĂĽr einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich
nicht Jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen
sagen: »vorwärts! auch unsre alte Moral gehört in die Komödie!« haben wir
für das dionysische Drama vom »Schicksal der Seele« eine neue Verwicklung
und Möglichkeit entdeckt –: und er wird sie sich schon zu Nutze machen,
darauf darf man wetten, er, der grosse alte ewige Komödiendichter unsres
Daseins!…
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften