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– Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu
Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dĂĽnkt, nicht nothwendig an mir. Sie
ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine
frĂĽheren Schriften gelesen und einige MĂĽhe dabei nicht gespart hat: diese sind
in der That nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen »Zarathustra«
anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes
seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief
entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts geniessen, an dem
halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen
Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfĂĽrchtig Antheil zu haben. In andern
Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass man
diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen
geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht
»entziffert«; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es
einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses
Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle
»Auslegung« nenne: – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt,
sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen
als Kunst zu ĂĽben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten
verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur »Lesbarkeit« meiner
Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfallsnicht »moderner
Mensch« sein muss: das Wiederkäuen…
Sils-Maria, Oberengadin, im Juli 1887.
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften