Page - 17 - in Zur Genealogie der Moral
Image of the Page - 17 -
Text of the Page - 17 -
6
Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen
seelischen Vorrangs-Begriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme
(obgleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste Kaste zugleich
die priesterlicheKaste ist und folglich zu ihrer Gesammt-Bezeichnung ein
Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum
Beispiel »rein« und »unrein« sich zum ersten Male als Ständeabzeichen
gegenüber; und auch hier kommt später ein »gut« und ein »schlecht« in einem
nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung. Im Übrigen sei man davor
gewarnt, diese Begriffe »rein« und »unrein« nicht von vornherein zu schwer,
zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe der älteren Menschheit
sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob,
plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere unsymbolisch verstanden
worden. Der »Reine« ist von Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht,
der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehen, der
nicht mit den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen
Abscheu vor Blut hat, – nicht mehr, nicht viel mehr! Andrerseits erhellt es
freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie,
warum hier gerade frühzeitig sich die Werthungs-Gegensätze auf eine
gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten; und in der That
sind durch sie schliesslich KlĂĽfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen
worden, ĂĽber die selbst ein Achill der Freigeisterei nicht ohne Schauder
hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas Ungesundes in solchen
priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln
abgewendeten, theils brĂĽtenden, theils gefĂĽhls-explosiven Gewohnheiten, als
deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende
intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint; was aber von ihnen
selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist, –
muss man nicht sagen, dass es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch
hundert Mal gefährlicher erwiesen hat, als die Krankheit, von der es erlösen
sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser
priesterlichen Kur-Naivetäten! Denken wir zum Beispiel an gewisse
Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche
Enthaltsamkeit, an die Flucht »in die Wüste« (Weir Mitchell’sche Isolirung,
freilich ohne die darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das
wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht):
hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche, faul- und raffinirtmachende
Metaphysik der Priester, ihre Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und
Brahmanen – Brahman als gläserner Knopf und fixe Idee benutzt – und das
schliessliche, nur zu begreifliche allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur,
back to the
book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften