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Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst
schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen,
denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch
eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus
einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-
Moral von vornherein Nein zu einem »Ausserhalb«, zu einem »Anders«, zu
einem »Nicht-selbst«: und diesNein ist ihre schöpferische That. Diese
Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach
Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die
Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und
Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um
überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das
Umgekehrte ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall: sie agirt und
wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch
dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff »niedrig«
»gemein« »schlecht« ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im
Verhältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft
durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir
Glücklichen!« Wenn die vornehme Werthungsweise sich vergreift und an der
Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche
ihr nicht genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich
spröde zur Wehre setzt: sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete
Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrerseits erwäge
man, dass jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des
Überlegen-Blickens, gesetzt, dass er das Bild des Verachteten fälscht, bei
weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene
Hass, die Rache des Ohnmächtigen sich an seinem Gegner – in effigie
natürlich – vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu viel
Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit
eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr
Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre
doch die beinahe wohlwollenden nuances nicht, welche zum Beispiel der
griechische Adel in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich
abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht
einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, dass fast alle Worte, die dem
gemeinen Manne zukommen, schliesslich als Ausdrücke für »unglücklich«
»bedauernswürdig« übrig geblieben sind (vergleiche δειλος, δελαιος,
πονηρος, μοχθηρος, letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als
Arbeitssklaven und Lastthier kennzeichnend) – und wie andrerseits
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften