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Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit.
Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzĂĽchten, das versprechen darf, schliesst, wie
wir bereits begriffen haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere
Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade
nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich
berechenbar zu machen. Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir
»Sittlichkeit der Sitte« genannt worden ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13. 16) –
die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer
des Menschengeschlechts, seine ganze vorhistorische Arbeit hat hierin ihren
Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei,
Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt: der Mensch wurde mit HĂĽlfe der
Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich
berechenbar gemacht. Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren
Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine FrĂĽchte zeitigt, wo die
Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozusie nur das
Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine
Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte
wieder losgekommene, das autonome ĂĽbersittliche Individuum (denn
»autonom« und »sittlich« schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen
unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – und in ihm ein stolzes,
in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich errungen und
in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-
Bewusstsein, ein Vollendungs-GefĂĽhl des Menschen ĂĽberhaupt. Dieser
Freigewordne, der wirklich versprechen darf, dieser Herr des freien Willens,
dieser Souverain – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er
damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und fĂĽr sich selbst gut
sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt
– er »verdient« alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich,
auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle
willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand
gegeben ist? Der »freie« Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen
Willens, hat in diesem Besitz auch seinWerthmaass: von sich aus nach den
Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er; und eben so nothwendig als er
die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche
versprechen dürfen) ehrt, – also Jedermann, der wie ein Souverain verspricht,
schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet,
wenn er vertraut, der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er
sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst »gegen das Schicksal«
aufrecht zu halten –: eben so nothwendig wird er seinen Fusstritt für die
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften