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Sein Gewissen?… Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff »Gewissen«,
dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen,
bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. FĂĽr sich
gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen – das ist,
wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine späteFrucht: – wie lange musste
diese Frucht herb und sauer am Baume hängen! Und eine noch viel längere
Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, – Niemand hätte sie
versprechen dĂĽrfen, so gewiss auch Alles am Baume vorbereitet und gerade
auf sie hin im Wachsen war! – »Wie macht man dem Menschen-Thiere ein
Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen
Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass
es gegenwärtig bleibt?«… Dies uralte Problem ist, wie man denken kann,
nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist
sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des
Menschen, als seineMnemotechnik. »Man brennt Etwas ein, damit es im
Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im
Gedächtniss« – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch
allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es
ĂĽberall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, dĂĽstere
Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der
Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals ĂĽberall auf Erden versprochen,
verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit, die längste tiefste härteste
Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir »ernst«
werden. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es
nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und
Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten
VerstĂĽmmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten
Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem
untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem
Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel
der Mnemonik errieth. In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik
hierher: ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar,
»fix« gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen
und intellektuellen Systems durch diese »fixen Ideen« – und die asketischen
Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der
Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie »unvergesslich« zu
machen. Je schlechter die Menschheit »bei Gedächtniss« war, um so
furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze
giebt in Sonderheit einen Maassstab dafĂĽr ab, wie viel MĂĽhe sie hatte, gegen
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften