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Zur Genealogie der Moral
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4 Aber wie ist denn jene andre »düstre Sache«, das Bewusstsein der Schuld, das ganze »schlechte Gewissen« auf die Welt gekommen? – Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals gesagt – oder habe ich’s noch gar nicht gesagt? – sie taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloss »moderne« Erfahrung; kein Wissen, kein Wille zum Wissen des Vergangnen; noch weniger ein historischer Instinkt, ein hier gerade nöthiges »zweites Gesicht« – und dennoch Geschichte der Moral treiben: das muss billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit in einem nicht bloss spröden Verhältnisse stehn. Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff »Schuld« seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff »Schulden« genommen hat? Oder dass die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat? – und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr immer erst einer hohen Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Thier »Mensch« anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen »absichtlich« »fahrlässig« »zufällig« »zurechnungsfähig« und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat herhalten müssen, »der Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können« ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffinirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also nicht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei: – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt, – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifizirt durch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers. Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältniss zwischenGläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt »Rechtssubjekte« giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist.
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Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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