Page - 47 - in Zur Genealogie der Moral
Image of the Page - 47 -
Text of the Page - 47 -
5
Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es
nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die
ältere Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und
Widerstand. Hier gerade wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum,
Dem, der verspricht, ein Gedächtniss zu machen; hier gerade, so darf man
argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der
Schuldner, um Vertrauen fĂĽr sein Versprechen der ZurĂĽckbezahlung
einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines
Versprechens zu geben, um bei sich selbst die ZurĂĽckbezahlung als Pflicht,
Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines
Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst
noch »besitzt«, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib
oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter
bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-
Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam des
Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, – es hatte
allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe).
Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten
Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als
der Grösse der Schuld angemessen schien: – und es gab frühzeitig und überall
von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in’s Kleine und
Kleinste gehende Abschätzungen, zu Recht bestehende Abschätzungen der
einzelnen Glieder und Körperstellen. Ich nehme es bereits als Fortschritt, als
Beweis freierer, grösser rechnender, römischerer Rechtsauffassung, wenn die
Zwölftafel-Gesetzgebung Rom’s dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder
wie wenig die Gläubiger in einem solchen Falle herunterschnitten »si plus
minusve secuerunt, ne fraude esto«. Machen wir uns die Logik dieser ganzen
Ausgleichungsform klar: sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit
gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden
Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend
welcher Art) dem Gläubiger eine ArtWohlgefühl als Rückzahlung und
Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem
Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust »de faire le mal
pour le plaisir de le faire«, der Genuss in der Vergewaltigung: als welcher
Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in
der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja
als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der
»Strafe« am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil:
endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden GefĂĽhle, ein Wesen als
back to the
book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften