Page - 51 - in Zur Genealogie der Moral
Image of the Page - 51 -
Text of the Page - 51 -
7
– Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich durchaus nicht Willens,
unsren Pessimisten zu neuem Wasser auf ihre misstönigen und knarrenden
MĂĽhlen des LebensĂĽberdrusses zu verhelfen; im Gegentheil soll ausdrĂĽcklich
bezeugt sein, dass damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch
nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten
giebt. Die VerdĂĽsterung des Himmels ĂĽber dem Menschen hat immer im
Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor dem
Menschen gewachsen ist. Der mĂĽde pessimistische Blick, das Misstrauen zum
Räthsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die
Abzeichen der bösestenZeitalter des Menschengeschlechts: sie treten
vielmehr erst an das Tageslicht, als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der
Sumpf da ist, zu dem sie gehören, – ich meine die krankhafte Verzärtlichung
und Vermoralisirung, vermöge deren das Gethier »Mensch« sich schliesslich
aller seiner Instinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum »Engel« (um hier
nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen
verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezĂĽchtet, durch die ihm nicht
nur die Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern das Leben selbst
unschmackhaft geworden ist: – so dass er mitunter vor sich selbst mit
zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend
den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht (»unreine Erzeugung, ekelhafte
Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch
sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und
Koth«). Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den
Argumenten gegen das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes
Fragezeichen, thut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt
urtheilte, weil man das Leiden-machen nicht entbehren mochte und in ihm
einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben
sah. Vielleicht that damals – den Zärtlingen zum Trost gesagt – der Schmerz
noch nicht so weh wie heute; wenigstens wird ein Arzt so schliessen dĂĽrfen,
der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen
genommen –) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche
auch den bestorganisirten Europäer fast zur Verzweiflung bringen; – bei
Negern thun sie dies nicht. (Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit
scheint in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man
erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-Millionen der Ăśbercultur hinter sich
hat; und ich fĂĽr meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte
Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden
aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher
Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht
back to the
book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften