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Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer
Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in
dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt,
in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner:
hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sichzuerst Person an Person.
Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem
nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen,
Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem
solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in
einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die älteste Art Scharfsinn
herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des
menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-GefĂĽhls in Hinsicht auf anderes
Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort »Mensch«
(manas) gerade etwas von diesem SelbstgefĂĽhl aus: der Mensch bezeichnete
sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das
»abschätzende Thier an sich«. Kauf und Verkauf, sammt ihrem
psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher
gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände: aus der rudimentärsten
Form des Personen-Rechts hat sich vielmehr das keimende GefĂĽhl von
Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten
und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Verhältniss zu
ähnlichen Complexen)übertragen, zugleich mit der Gewohnheit, Macht an
Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal
fĂĽr diese Perspektive eingestellt: und mit jener plumpen Consequenz, die dem
schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung
weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man
alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an »jedes Ding hat seinen
Preis; Alles kann abgezahlt werden« – dem ältesten und naivsten Moral-
Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller »Gutmüthigkeit«, aller
»Billigkeit«, alles »guten Willens«, aller »Objektivität« auf Erden.
Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr
Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich
wieder zu »verständigen« – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter
sich zu einem Ausgleich zu zwingen. –
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften