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– Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den
Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen, –
nämlich auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran in’s Ohr gesagt,
gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der
Nähe zu studieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten
und Antisemiten, ĂĽbrigens so wie sie immer geblĂĽht hat, im Verborgnen, dem
Veilchen gleich, wenn schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem
nothwendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es nicht ĂĽberraschen,
gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie
schon öfter dagewesen sind – vergleiche oben Seite 30 –, die Rache unter
dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im
Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und
mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesammt nachträglich zu
Ehren zu bringen. An Letzterem selbst wĂĽrde ich am wenigsten Anstoss
nehmen: es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze biologische Problem
(in Bezug auf welches der Werth jener Affekte bisher unterschätzt worden ist)
ein Verdienst. Worauf ich allein aufmerksam mache, ist der Umstand, dass es
der Geist des Ressentiment selbst ist, aus dem diese neue Nuance von
wissenschaftlicher Billigkeit (zu Gunsten von Hass, Neid, Missgunst,
Argwohn, Rancune, Rache) herauswächst. Diese »wissenschaftliche
Billigkeit« nämlich pausirt sofort und macht Accenten tödtlicher Feindschaft
und Voreingenommenheit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von
Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch viel höheren
biologischen Werthe sind, als jene reaktiven, und folglich erst recht
verdienten, wissenschaftlich abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden:
nämlich die eigentlich aktiven Affekte, wie Herrschsucht, Habsucht und
dergleichen. (E. DĂĽhring, Werth des Lebens; Cursus der Philosophie; im
Grunde ĂĽberall.) So viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen: was aber gar
den einzelnen Satz Dühring’s angeht, dass die Heimat der Gerechtigkeit auf
dem Boden des reaktiven GefĂĽhls zu suchen sei, so muss man ihm, der
Wahrheit zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz
entgegenstellen: derletzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert
wird, ist der Boden des reaktiven GefĂĽhls! Wenn es wirklich vorkommt, dass
der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht
nur kalt, massvoll, fremd, gleichgĂĽltig: Gerecht-sein ist immer
ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher
Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als
mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt,
nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden, –
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften