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– Man hat also, um zur Sache, nämlich zur Strafe zurückzukehren, zweierlei
an ihr zu unterscheiden: einmal das relativDauerhafte an ihr, den Brauch, den
Akt, das »Drama«, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits
dasFlüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die
Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne Weiteres
vorausgesetzt, per analogiam, gemäss dem eben entwickelten
Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, dass die Prozedur selbst
etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass letztere
erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche)
Prozedur hineingelegt, hineingedeutet worden ist, kurz, dass esnicht so steht,
wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich
allesammt die Prozedurerfunden dachten zum Zweck der Strafe, so wie man
sich ehemals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun
jenes andre Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren »Sinn«, so stellt
in einem sehr späten Zustande der Cultur (zum Beispiel im heutigen Europa)
der Begriff »Strafe« in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine
ganze Synthesis von »Sinnen«: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt,
die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken,
krystallisirt sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich,
schwer zu analysiren und, was man hervorheben muss, ganz und
gar undefinirbar ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu
sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer
Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar
ist nur Das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint
dagegen jene Synthesis von »Sinnen« noch löslicher, auch noch
verschiebbarer; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die
Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern und sich demgemäss
umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen
hervortritt und dominirt, ja unter Umständen Ein Element (etwa der Zweck
der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um
wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich,
wie accidentiell »der Sinn« der Strafe ist und wie ein und dieselbe Prozedur
auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht
werden kann: so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines
verhältnissmässig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als
Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe als
Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in
der einer Affekt-Compensation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-
Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften