Page - 68 - in Zur Genealogie der Moral
Image of the Page - 68 -
Text of the Page - 68 -
16
An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese
über den Ursprung des »schlechten Gewissens« zu einem ersten vorläufigen
Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will
lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte
Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck
jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt
erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der
Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den
Wasserthieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder
Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es diesen der
Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glĂĽcklich
angepassten Halbthieren, – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte
entwerthet und »ausgehängt«. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und
»sich selber tragen«, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine
entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fĂĽhlten
sie sich ungelenk, sie hatten fĂĽr diese neue unbekannte Welt ihre alten FĂĽhrer
nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren
auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und
Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr »Bewusstsein«, auf ihr
ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ! Ich glaube, dass niemals auf Erden
ein solches Elends-GefĂĽhl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist,
– und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre
Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu
Willen zu sein: in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam
unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach
Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich
die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den
Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt,
ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse
aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die
Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren
Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten
Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen
Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien
schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen
selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung,
am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber
solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten
Gewissens«. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und
back to the
book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften