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Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die
Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen
Organisationsform der »Gemeinschaft« keineswegs zum Abschluss
gekommen; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die Begriffe »gut
und schlecht« von dem Geschlechts-Adel (sammt dessen psychologischem
Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der
Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten
Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen.
(Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen,
welche sich an den Götter-Cultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es
durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepasst haben: von ihnen aus fliesst
dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die
Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar
immer fort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das
Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die
ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-
verschmelzens, Alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente
in jeder grossen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem
Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen
und Versöhnungen ab; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der
Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung
des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgend welchem Monotheismus
den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes,
der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des
Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, dass wir
nachgerade in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit
keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unaufhaltsamen Niedergang des
Glaubens an den christlichen Gott ableiten, dass es jetzt bereits auch schon
einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins gäbe; ja
die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg
des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen
ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine
Art zweiter Unschuld gehören zu einander. –
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften