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Zur Genealogie der Moral
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24 – Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. »Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen?« so fragt man mich vielleicht… Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf Erden die Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wie viel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel Lüge geheiligt, wie viel Gewissen verstört, wie viel »Gott« jedes Mal geopfert werden musste? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfüllt ist!… Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? – nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden?… Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden… Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!… Es bedürfte zu jenem Ziele einer andren Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muthwillens der Erkenntniss, welcher zur grossen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser grossen Gesundheit!… Ist diese gerade heute auch nur möglich?… Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke
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Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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