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– Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. »Wird hier
eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen?« so fragt man mich
vielleicht… Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf
Erden die Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wie viel
Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel LĂĽge geheiligt,
wie viel Gewissen verstört, wie viel »Gott« jedes Mal geopfert werden
musste? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein
Heiligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall,
wo es nicht erfüllt ist!… Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der
Gewissens-Vivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden: darin
haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall
unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung. Der Mensch hat
allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so dass sie
sich in ihm schliesslich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben.
Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug
dazu? – nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum
Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen,
kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale,
Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.
An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden?…
Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die
bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden… Was
beleidigt tiefer, was trennt so grĂĽndlich ab, als etwas von der Strenge und
Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum –
wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald
wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!… Es
bedĂĽrfte zu jenem Ziele einer andren Art Geister, als gerade in diesem
Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt,
denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum
Bedürfniss geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe
Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es
bedĂĽrfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten
selbstgewissesten Muthwillens der Erkenntniss, welcher zur grossen
Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser grossen
Gesundheit!… Ist diese gerade heute auch nur möglich?… Aber irgendwann,
in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist,
muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und
Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem
Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften