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Was bedeuten asketische Ideale? – Bei Künstlern Nichts oder zu Vielerlei; bei
Philosophen und Gelehrten Etwas wie Witterung und Instinkt für die
günstigsten Vorbedingungen hoher Geistigkeit; bei Frauen, besten Falls, eine
Liebenswürdigkeit der Verführung mehr, ein wenig morbidezza auf schönem
Fleische, die Engelhaftigkeit eines hübschen fetten Thiers; bei physiologisch
Verunglückten und Verstimmten (bei der Mehrzahl der Sterblichen) einen
Versuch, sich »zu gut« für diese Welt vorzukommen, eine heilige Form der
Ausschweifung, ihr Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen Schmerz und
der Langenweile; bei Priestern den eigentlichen Priesterglauben, ihr bestes
Werkzeug der Macht, auch die »allerhöchste« Erlaubniss zur Macht; bei
Heiligen endlich einen Vorwand zum Winterschlaf, ihre novissima gloriae
cupido, ihre Ruhe im Nichts (»Gott«), ihre Form des Irrsinns. Dass aber
überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin
drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror
vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen,
als nicht wollen. – Versteht man mich?… Hat man mich verstanden?…
»Schlechterdings nicht! mein Herr« – Fangen wir also von vorne an.
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften