Page - 97 - in Zur Genealogie der Moral
Image of the Page - 97 -
Text of the Page - 97 -
8
Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen und Richter ĂĽber
den Werth des asketischen Ideals, diese Philosophen! Sie denken an sich, –
was geht sie »der Heilige« an! Sie denken an Das dabei, was ihnen gerade das
Unentbehrlichste ist: Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften,
Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken;
eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der
alles animalische Sein geistiger wird und FlĂĽgel bekommt; Ruhe in allen
Souterrains; alle Hunde hĂĽbsch an die Kette gelegt; kein Gebell von
Feindschaft und zotteliger Rancune; keine NagewĂĽrmer verletzten Ehrgeizes;
bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern;
das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum, – sie denken, Alles in Allem,
bei dem asketischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines vergöttlichten und
flĂĽgge gewordnen Thiers, das ĂĽber dem Leben mehr schweift als ruht. Man
weiss, was die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind: Armuth,
Demuth, Keuschheit: und nun sehe man sich einmal das Leben aller grossen
fruchtbaren erfinderischen Geister aus der Nähe an, – man wird darin alle drei
bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden. Durchaus nicht, wie sich
von selbst versteht, als ob es etwa deren »Tugenden« wären – was hat diese
Art Mensch mit Tugenden zu schaffen! – sondern als die eigentlichsten und
natĂĽrlichsten Bedingungen ihres besten Daseins,
ihrer schönsten Fruchtbarkeit. Dabei ist es ganz wohl möglich, dass ihre
dominirende Geistigkeit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder
einer muthwilligen Sinnlichkeit ZĂĽgel anzulegen hatte oder dass sie ihren
Willen zur »Wüste« vielleicht gegen einen Hang zum Luxus und zum
Ausgesuchtesten, insgleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit
Herz und Hand schwer genug aufrecht erhielt. Aber sie that es, eben als
der dominirendeInstinkt, der seine Forderungen bei allen andren Instinkten
durchsetzte – sie thut es noch; thäte sie’s nicht, so dominirte sie eben nicht.
Daran ist also nichts von »Tugend«. Die Wüste übrigens, von welcher ich
eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn
und vereinsamen – oh wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine
Wüste träumen! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, diese
Gebildeten. Und gewiss ist es, dass alle Schauspieler des Geistes es
schlechterdings nicht in ihr aushielten, – für sie ist sie lange nicht romantisch
und syrisch genug, lange nicht Theater-WĂĽste genug! Es fehlt allerdings auch
in ihr nicht an Kameelen: darauf aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit.
Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich
selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt,
ein Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als an’s Licht stellt; ein Umgang
back to the
book Zur Genealogie der Moral"
Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften