Page - 102 - in Zur Genealogie der Moral
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unsre Stellung zu uns, – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit
keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die
Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am »Heil« der Seele!
Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht
daran, lehrreicher noch als Gesundsein, – die Krankmacher scheinen uns
heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und »Heilande«. Wir
vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele,
wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als
Nüsseknacken; ebendamit müssen wir nothwendig täglich immer noch
fragwürdiger, würdiger zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger
– zu leben?… Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge; aus jeder
Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange
eine Versündigung am Rechte der Gemeinde; man hat einst Busse dafür
gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaassen
(dahin gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Cambodja das
Vorrecht der Priester, dieser Bewahrer »alter guter Sitten«). Die sanften,
wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen Gefühle – nachgerade so hoch im
Werthe, dass sie fast »die Werthe an sich« sind – hatten die längste Zeit
gerade die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich der Milde, wie
man sich heute der Härte schämt (vergl. »Jenseits von Gut und Böse« S. 232).
Die Unterwerfung unter das Recht: – oh mit was für Gewissens-Widerstande
haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf
Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt! Das »Recht«
war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt
auf, alsGewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder
kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen
Martern erstritten worden: dieser ganze Gesichtspunkt, »dass nicht nur das
Vorwärtsschreiten, nein! das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung ihre
unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat«, klingt gerade heute uns so fremd, –
ich habe ihn in der »Morgenröthe« S. 17 ff. an’s Licht gestellt. »Nichts ist
theurer erkauft, heisst es daselbst S. 19, als das Wenige von menschlicher
Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht.
Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit
jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit der Sitte« zu empfinden,
welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als die wirkliche und
entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit
festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die
Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft
als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegierde als
Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das
Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als
Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften