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seine kranke Heerde, dieser seltsame Hirt, – er vertheidigt sie auch gegen
sich, gegen die in der Heerde selbst glimmende Schlechtigkeit, TĂĽcke,
Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken unter einander zu
eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit
beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in welcher jener
gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig
häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, dass er nicht die Heerde
und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches KunststĂĽck, auch
seine oberste NĂĽtzlichkeit; wollte man den Werth der priesterlichen Existenz
in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist
der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht
instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch
bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter, – kurz, irgend
etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend
einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der grösste
Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein
unwillkĂĽrlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin
allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische
Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden,
in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt: – man
sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthĂĽmlich, wie mich dĂĽnkt, in dem Defensiv-
Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel der Reaktion, einer
»Reflexbewegung« im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und
Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um
eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental:
im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen
Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden Schmerz
durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art betäubenund für den
Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man
einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den
ersten besten Vorwand. »Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich
mich schlecht befinde« – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen,
und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befindens, die
physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des
nervus sympathicus liegen oder in einer übermässigen Gallen-Absonderung,
oder an einer Armuth des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder
in Druckzuständen des Unterleibes, welche den Blutumlauf stauen, oder in
Entartung der Eierstöcke und dergleichen). Die Leidenden sind allesammt von
einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden zu
schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren Argwohn schon, das GrĂĽbeln
über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen
die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften