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Man erräth nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt
des Lebens durch den asketischen Priester zum Mindesten versucht hat und
wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer
Begriffe wie »Schuld«, »Sünde«, »Sündhaftigkeit«, »Verderbniss«,
»Verdammniss« hat dienen müssen: die Kranken bis zu einem gewissen
Grade unschädlich zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören,
den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine
Rückwärtsrichtung ihres Ressentiments zu geben (»Eins ist noth« –) und die
schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der
Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen. Es
kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer »Medikation« dieser Art,
einer blossen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche
Kranken-Heilung im physiologischen Verstande handeln; man dürfte selbst
nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die
Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art
Zusammendrängung und Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das
Wort »Kirche« ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger
Sicherstellung der Gesünder-Gerathenen, der Voller-Ausgegossenen auf der
andern, die Aufreissung einer Kluft somit zwischen Gesund und Krank – das
war für lange Alles! Und es war Viel! es war sehr Viel!… [Ich gehe in dieser
Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht
auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe: dass
»Sündhaftigkeit« am Menschen kein Thatbestand ist, vielmehr nur die
Interpretation eines Thatbestandes, nämlich einer physiologischen
Verstimmung, – letztere unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn,
welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Damit, dass Jemand sich
»schuldig«, »sündig« fühlt, ist schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er
sich mit Recht so fühlt; so wenig Jemand gesund ist, bloss deshalb, weil er
sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse:
damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter
nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege; die »Hexen« selbst zweifelten
nicht daran, – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in
erweiterter Form auszudrücken: der »seelische Schmerz« selbst gilt mir
überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causal-
Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen: somit als
Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich
unverbindlich ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar
spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit einem »seelischen Schmerz«
nicht fertig wird, so liegt das, grob geredet, nicht an seiner »Seele«;
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften