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Zur Genealogie der Moral
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16 Man erräth nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum Mindesten versucht hat und wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie »Schuld«, »Sünde«, »Sündhaftigkeit«, »Verderbniss«, »Verdammniss« hat dienen müssen: die Kranken bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärtsrichtung ihres Ressentiments zu geben (»Eins ist noth« –) und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen. Es kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer »Medikation« dieser Art, einer blossen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche Kranken-Heilung im physiologischen Verstande handeln; man dürfte selbst nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das Wort »Kirche« ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger Sicherstellung der Gesünder-Gerathenen, der Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreissung einer Kluft somit zwischen Gesund und Krank – das war für lange Alles! Und es war Viel! es war sehr Viel!… [Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe: dass »Sündhaftigkeit« am Menschen kein Thatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes, nämlich einer physiologischen Verstimmung, – letztere unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Damit, dass Jemand sich »schuldig«, »sündig« fühlt, ist schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er sich mit Recht so fühlt; so wenig Jemand gesund ist, bloss deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege; die »Hexen« selbst zweifelten nicht daran, – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in erweiterter Form auszudrücken: der »seelische Schmerz« selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causal- Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen: somit als Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit einem »seelischen Schmerz« nicht fertig wird, so liegt das, grob geredet, nicht an seiner »Seele«;
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Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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