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(deutsche Depression nach dem dreissigjährigen Kriege, welcher halb
Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden
für deutsche Servilität, deutschen Kleinmuth vorbereitete). In einem solchen
Falle wird jedes Mal im grössten Stil ein Kampf mit dem
UnlustgefĂĽhl versucht; unterrichten wir uns kurz ĂĽber dessen wichtigste
Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den
eigentlichen Philosophen-Kampf gegen das UnlustgefĂĽhl, der immer
gleichzeitig zu sein pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber zu
absurd, zu praktischgleichgĂĽltig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft,
etwa wenn der Schmerz als ein Irrthum bewiesen werden soll, unter der
naiven Voraussetzung, dass der Schmerz schwinden mĂĽsse, wenn erst der
Irrthum in ihm erkannt ist – aber siehe da! er hütete sich, zu schwinden… )
Man bekämpft erstens jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das
Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich
ĂĽberhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr; Allem, was Affekt macht, was
»Blut« macht, ausweichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs); nicht lieben;
nicht hassen; Gleichmuth; nicht sich rächen; nicht sich bereichern; nicht
arbeiten; betteln; womöglich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich: in
geistiger Hinsicht das Princip Pascal’s »il faut s’abêtir«. Resultat,
psychologisch-moralisch ausgedrückt: »Entselbstung«, »Heiligung«;
physiologisch ausgedrückt: Hypnotisirung, – der Versuch Etwas für den
Menschen annähernd zu erreichen, was derWinterschlaf für einige Thierarten,
der Sommerschlaf fĂĽr viele Pflanzen der heissen Klimaten ist, ein Minimum
von Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch
besteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten. Auf dieses Ziel ist
eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt worden – umsonst
etwa?… Dass solche sportsmen der »Heiligkeit«, an denen alle Zeiten, fast
alle Völker reich sind, in der That eine wirkliche Erlösung von dem gefunden
haben, was sie mit einem so rigorösen training bekämpften, daran darf man
durchaus nicht zweifeln, – sie kamen von jener tiefen physiologischen
Depression mit HĂĽlfe ihres Systems von Hypnotisirungs-Mitteln in
unzähligen Fällen wirklichlos: weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten
ethnologischen Thatsachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubniss dazu, um
schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und der
Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art
von Roastbeef-fressenden »Freigeistern« und Junker Christophen zu thun
beliebt). Um so sicherer ist es, dass sie den Weg zu allerhand geistigen
Störungen abgiebt, abgeben kann, zu »inneren Lichtern« zum Beispiel, wie
bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-
Hallucinationen, zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der
Sinnlichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Auslegung, welche
derartigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben wird, ist immer
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften