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Bekämpfung der Depressions-Unlust, auf deren Linderung, deren Betäubung
aus war. Dies Ziel wurde auch so erreicht. Der Hauptgriff, den sich der
asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jede Art von
zerreissender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit
gethan – Jedermann weiss das –, dass er sich das Schuldgefühl zu Nutze
machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein
Stück Thierpsychologie, als nicht mehr: das Schuldgefühl trat uns dort
gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des
Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt
gewonnen – oh was für eine Gestalt! Die »Sünde« – denn so lautet die
priesterliche Umdeutung des thierischen »schlechten Gewissens« (der
rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bisher das grösste Ereigniss in der
Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben wir das gefährlichste und
verhängnissvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an
sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier,
das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu? begehrlich nach Gründen
– Gründe erleichtern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, beräth
sich endlich mit Einem, der auch das Verborgene weiss – und siehe da! er
bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen
Priester, den ersten Wink über die »Ursache« seines Leidens: er soll sie
in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein
Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn… Er hat gehört, er hat
verstanden, der Unglückliche: jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein
Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder
heraus: aus dem Kranken ist »der Sünder« gemacht… Und nun wird man den
Aspekt dieses neuen Kranken, »des Sünders«, für ein paar Jahrtausende nicht
los, – wird man ihn je wieder los? – wohin man nur sieht, überall der
hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der Einen Richtung bewegt
(in der Richtung auf »Schuld«, als der einzigen Leidens-Causalität); überall
das böse Gewissen, dies »grewliche thier«, mit Luther zu reden; überall die
Vergangenheit zurückgekäut, die That verdreht, das »grüne Auge« für alles
Thun; überall das zum Lebensinhalt gemachte Missverstehen-Wollen des
Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle; überall die
Geissel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung; überall
das Sich-selbst-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines
unruhigen, krankhaftlüsternen Gewissens; überall die stumme Qual, die
äusserste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines
unbekannten Glücks, der Schrei nach »Erlösung«. In der That, mit diesem
System von Prozeduren war die alte Depression, Schwere und Müdigkeit
gründlich überwunden, das Leben wurde wieder sehr interessant: wach, ewig
wach, übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so
nahm sich der Mensch aus, »der Sünder«, der in diese Mysterien eingeweiht
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften