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Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch
nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch
den Geschmack verdorben in artibus et litteris, – er verdirbt ihn immer noch.
»Folglich«? – Ich hoffe, man giebt mir dies Folglich einfach zu; zum
Mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig: er gilt dem
Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem
»Buche an sich«. Noch inmitten der griechsich-römischen Herrlichkeit,
welche auch eine BĂĽcher-Herrlichkeit war, Angesichts einer noch nicht
verkĂĽmmerten und zertrĂĽmmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da
man noch einige BĂĽcher lesen konnte, um deren Besitz man jetz halbe
Litteraturen eintauschen wĂĽrde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit
christlicher Agitatoren – man heisst sie Kirchenväter – zu dekretiren:
»auch wir haben unsre klassische Litteratur, wir brauchen die der Griechen
nicht«, – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und
apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische
»Heilsarmee« mit einer verwandten Litteratur ihren Kampf gegen
Shakespeare und andre »Heiden« kämpft. Ich liebe das »neue Testament«
nicht, man erräth es bereits; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem
Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks
dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende
ist gegenmich): aber was hilft es! »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, –
ich habe den Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das alte Testament –
ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm
finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom
Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens;
mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-
Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges,
Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu vergessen einen
gelegentlichen Hauch bukolischer SĂĽsslichkeit, welcher der Epoche (und der
römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist.
Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des
Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches
Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man
von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese
frommen Männlein thun! Kein Hahn kräht darnach; geschweige denn Gott.
Zuletzt wollen sie gar noch »die Krone des ewigen Lebens« haben, alle diese
kleinen Leute der Provinz: wozu doch? wofĂĽr doch? man kann die
Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein »unsterblicher« Petrus: wer
hielte den aus! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht: das käut sein
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften