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Zur Genealogie der Moral
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22 Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch den Geschmack verdorben in artibus et litteris, – er verdirbt ihn immer noch. »Folglich«? – Ich hoffe, man giebt mir dies Folglich einfach zu; zum Mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig: er gilt dem Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem »Buche an sich«. Noch inmitten der griechsich-römischen Herrlichkeit, welche auch eine Bücher-Herrlichkeit war, Angesichts einer noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher lesen konnte, um deren Besitz man jetz halbe Litteraturen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heisst sie Kirchenväter – zu dekretiren: »auch wir haben unsre klassische Litteratur, wir brauchen die der Griechen nicht«, – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische »Heilsarmee« mit einer verwandten Litteratur ihren Kampf gegen Shakespeare und andre »Heiden« kämpft. Ich liebe das »neue Testament« nicht, man erräth es bereits; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegenmich): aber was hilft es! »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, – ich habe den Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten- Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süsslichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männlein thun! Kein Hahn kräht darnach; geschweige denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch »die Krone des ewigen Lebens« haben, alle diese kleinen Leute der Provinz: wozu doch? wofür doch? man kann die Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein »unsterblicher« Petrus: wer hielte den aus! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht: das käut sein
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Zur Genealogie der Moral
Title
Zur Genealogie der Moral
Author
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Date
1887
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.0 cm
Pages
148
Category
Geisteswissenschaften

Table of contents

  1. Vorrede 2
  2. Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht« 10
  3. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes 40
  4. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 84
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