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Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack
verdorben, es hat noch etwas Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben –
ich werde mich hüten zu sagen was Alles (wann käme ich zu Ende!). Nicht
was dies Idealgewirkt hat, soll hier von mir an’s Licht gestellt werden;
vielmehr ganz allein nur, was es bedeutet, worauf es rathen lässt, was hinter
ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche,
mit Fragezeichen und Missverständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in
Hinsicht auf diesen Zweck durfte ich meinen Lesern einen Blick auf das
Ungeheure seiner Wirkungen, auch seiner verhängnissvollen Wirkungen nicht
ersparen: um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt vorzubereiten,
den die Frage nach der Bedeutung jenes Ideals fĂĽr mich hat. Was bedeutet
eben die Macht jenes Ideals, dasUngeheure seiner Macht? Weshalb ist ihm in
diesem Maasse Raum gegeben worden? weshalb nicht besser Widerstand
geleistet worden? Das asketische Ideal drĂĽckt einen Willen aus: wo ist der
gegnerische Wille, in dem sich ein gegnerisches Ideal ausdrĂĽckte? Das
asketische Ideal hat ein Ziel, – dasselbe ist allgemein genug, dass alle
Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und
eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses
Eine Ziel hin aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel gelten, es
verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (– und
gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?); es unterwirft
sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an
seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran,
dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn,
ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug
zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu Einem Ziele… Wo
ist das GegenstĂĽck zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und
Interpretation? Warum fehlt das Gegenstück?… Wo ist das andre »Eine
Ziel«?… Aber man sagt mir, es fehle nicht, es habe nicht nur einen langen
glücklichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen
Hauptsachen bereits ĂĽber jenes Ideal Herr geworden: unsre ganze
moderneWissenschaft sei das Zeugniss dafür, – diese moderne Wissenschaft,
welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an
sich selber glaube, ersichtlich den Muth zu sich, den Willen zu sich besitze
und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden
ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm und Agitatoren-Geschwätz
richtet man Nichts bei mir aus: diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte
Musikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug nicht aus der Tiefe, aus
ihnen redet nicht der Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens – denn heute
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften