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ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort »Wissenschaft«
ist in solchen Trompeter-Mäulern einfach eine Unzucht, ein Missbrauch, eine
Schamlosigkeit. Gerade das Gegentheil von dem, was hier behauptet wird, ist
die Wahrheit: die Wissenschaft hat heute schlechterdings keinen Glauben an
sich, geschweige ein Ideal über sich, – und wo sie überhaupt noch
Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes
asketischen Ideals, vielmehr dessen jĂĽngste und vornehmste Form selber.
Klingt euch das fremd?… Es giebt ja genug braves und bescheidenes
Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten von Heute, dem sein kleiner Winkel
gefällt, und das darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig
unbescheiden mit der Forderung laut wird, man solle ĂĽberhaupt heute
zufrieden sein, zumal in der Wissenschaft, – es gäbe da gerade so viel
Nützliches zu thun. Ich widerspreche nicht; am wenigsten möchte ich diesen
ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben: denn ich freue mich
ihrer Arbeit. Aber damit, dass jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird
und dass es zufriedne Arbeiter giebt, ist schlechterdings nicht bewiesen, dass
die Wissenschaft als Ganzes heute ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine
Leidenschaft des grossen Glaubens habe. Das Gegentheil, wie gesagt, ist der
Fall: wo sie nicht die jüngste Erscheinungsform des asketischen Ideals ist, –
es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als dass damit
das Gesammturtheil umgebogen werden könnte – ist die Wissenschaft heute
ein Versteck fĂĽr alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui,
schlechtes Gewissen, – sie ist die Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden
am Mangel der grossen Liebe, das UngenĂĽgen an
einer unfreiwilligen GenĂĽgsamkeit. Oh was verbirgt heute nicht Alles
Wissenschaft! wie viel soll sie mindestens verbergen! Die TĂĽchtigkeit unsrer
besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender
Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das Alles seinen
eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden
zu lassen! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung: kennt ihr das?…
Man verwundet sie – Jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht – mitunter
durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten
Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt
sie ausser Rand und Band, bloss weil man zu grob war, um zu errathen, mit
wem man es eigentlich zu thun hat, mit Leidenden, die es sich selbst nicht
eingestehn wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur
Eins fürchten: zum Bewusstsein zu kommen…
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften