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– Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren Fälle an, von denen ich
sprach, die letzten Idealisten, die es heute unter Philosophen und Gelehrten
giebt: hat man in ihnen vielleicht die gesuchten Gegner des asketischen
Ideals, dessen Gegen-Idealisten? In der That, sie glauben sich als solche,
diese »Ungläubigen« (denn das sind sie allesammt); es scheint gerade Das ihr
letztes StĂĽck Glaube, Gegner dieses Ideals zu sein, so ernsthaft sind sie an
dieser Stelle, so leidenschaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde: –
brauchte es deshalb schon wahr zu sein, was sie glauben?… Wir
»Erkennenden« sind nachgerade misstrauisch gegen alle Art Gläubige; unser
Misstrauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schliessen, als
man ehedem schloss: nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in
den Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit,
auf Unwahrscheinlichkeit selbst des Geglaubten zu schliessen. Auch wir
leugnen nicht, dass der Glaube »selig macht«: eben deshalb leugnen wir, dass
der Glaube Etwas beweist, – ein starker Glaube, der selig macht, ist ein
Verdacht gegen Das, woran er glaubt, er begründet nicht »Wahrheit«, er
begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täuschung. Wie steht es nun
in diesem Falle? – Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese
Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese
harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer
Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten,
Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes (letzteres sind sie
sammt und sonders, in irgend einem Sinne), diese letzten Idealisten der
Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und
leibhaft ward, – sie glauben sich in der That so losgelöst als möglich vom
asketischen Ideale, diese »freien, sehr freien Geister«: und doch, dass ich
ihnen verrathe, was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu
nahe – dies Ideal ist gerade auch ihr Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und
Niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine
vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schaar, seine verfänglichste,
zarteste, unfasslichste Verführungsform: – wenn ich irgend worin
Räthselrather bin, so will ich es mit diesem Satze sein!… Das sind noch lange
keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit… Als die
christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden
stiessen, jenen Freigeister-Orden par excellence, dessen unterste Grade in
einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat,
da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink ĂĽber jenes
Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren
Secretum, vorbehalten war: »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt«… Wohlan, das
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften