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wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter
Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s
war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist… Aber wie,
wenn gerade dies immer mehr unglaubwĂĽrdig wird, wenn Nichts sich mehr
als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn
Gott selbst sich als unsre längste Lügeerweist?« – – An dieser Stelle thut es
Noth, Halt zu machen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft
selber bedarfnunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt
sein soll, dass es eine solche fĂĽr sie giebt). Man sehe sich auf diese Frage die
ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein
darĂĽber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung
bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das? Weil das
asketische Ideal ĂĽber alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als
Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar
nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«? – Von dem Augenblick
an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, giebt es
auch ein neues Problem: das vom Werthe der Wahrheit. – Der Wille zur
Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe
–, der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen…
(Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der
»fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern
auch wir noch fromm sind« S. 260 ff, am besten das ganze fünfte Buch des
genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur »Morgenröthe«.)
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften