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Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des
lüsternen Eunuchenthums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen
Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz! Alle meine Ehrfurcht
dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! so lange es an sich selber glaubt
und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen
nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen,
bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten
Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und
Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken;
ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von
Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler
nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur
tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten
Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen
christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld
erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der
moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen
(– dass jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne
Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits
handgreiflichenVerödung des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache
ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und
Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese
Diät abgiebt: einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke,
aber enge Princip »Deutschland, Deutschland über Alles«, sodann aber die
Paralysis agitans der »modernen Ideen«). Europa ist heute reich und
erfinderisch vor Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger zu
haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure
Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch
die widrige, übelriechende, verlogne, pseudoalkoholische Luft überall. Ich
möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus,
von Helden-Kostümen und Klapperblech grosser Worte, wie viel Tonnen
verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion de la souffrance), wie
viel Stelzbeine »edler Entrüstung« zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie
viel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa
exportirt werden müssten, damit seine Luft wieder reinlicher röche…
Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels-
Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen
»Idealisten« ein neues »Geschäft« zu machen – man überhöre diesen
Zaunspfahl nicht! Wer hat Muth genug dazu? – wir haben es in der Hand, die
ganze Erde zu »idealisiren«!… Aber was rede ich von Muth: hier thut Eins
nur Noth, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand…
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften