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wie als ob Alles FĂĽgung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe
ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das
Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig,
unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit, – mit dieser
Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von
Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung«… Alle grossen Dinge
gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so
will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz
der nothwendigen»Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens, – immer
ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: »patere legem, quam ipse
tulisti.« Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner
eignen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu
Grunde gehn, – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die
christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht
sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber
geschieht, wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur
Wahrheit?«… Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem,
meine unbekannten Freunde (– denn noch weiss ich von keinem Freunde):
welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille
zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre?…
An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an –
daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde: jenes grosse Schauspiel in
hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart
bleibt, das furchtbarste, fragwĂĽrdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste
aller Schauspiele…
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Zur Genealogie der Moral
- Title
- Zur Genealogie der Moral
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1887
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 148
- Category
- Geisteswissenschaften