Page - 22 - in Österreichische Bürgerkunde
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22 //. Staat und Recht.
gegensätzlichen Forderungen dar. Denn der Staat, der alle gesellschaftlichen
Sonderbildungen zur solidarischen Einheit zusammenfaßt, kann das Recht nicht
einseitig regeln oder handhaben; die Mittellinie, der er hiebei folgt, ergibt sich aus
dem Ringen und Zusammenwirken der politischen Parteien, die jene gesell-
schaftlichen Forderungen vertreten^).
Der Staat ist allerdings nicht die einzige Quelle des Rechtes. Je weniger der
Staat ausgebildet ist, desto stärker wirkt die rechtsbildende Kraft anderer gesell-
schaftlicher Verbände. Auch heute setzen sich die Kirchen und zahlreiche andere
Verbände ihr Recht selbst. Aber die Befugnis, staatlich anerkanntes Recht zu
bilden, die sogenannteAutonomie wird vom Staate abgeleitet. Im modernen
Staate ist alles Recht vom Staate entweder geschaffen oder zugelassen und auch
die zwangsweise Durchsetzung der Rechtsgebote ist ausscMießlich der Staats-
gewalt und den Verbänden vorbehalten, die der Staat damit betraut.
Verpflichtet das Recht auch den Staat, der es geschaffen hat? Schon in der
Zeit des Absolutismus bestand eine ausgebildete Rechtsordnung, welche nicht nur
das gegenseitige Verhältnis der Untertanen, sondern auch das Verhalten der Be-
hörden den Untertanengegenüber regelte. Auch hatte sich die Regel herausgebildet,
daß die Richter beiderAnwendungund Auslegungder Gesetze fi'eiund unbeeinflußt
sein sollen. Allein die Gesetze entsprangen ausschließlich dem Willen des Füi'sten,
und nicht immer hielt sich der Fürst an das geltende Recht. Anders im modernen
Staate; der moderne Staat bindet seine Gewalt auch den Untertanen gegenüber
immer strenger an Rechtsregeln, die niu- in bestimmten rechtlichen Formen ge-
schaffen, abgeändert oder aufgehoben werden können. Auf dieser sicheren Grenz-
bestimmung zwischen dem Staate und den Untertanen beruht der Gedanke des
Rechtsstaates: Das vom Staate geschaffene Recht gilt auch dem Staate
gegenüber, indem er seine Organe zm* Anwendung und Dm'chfülirung des Rechtes
verpflichtet und so den Willen aller Beteiligten im Sinne der Rechtsvorschrift
motiviert. Und die Einhaltung der Rechtssclu-anken wird auch dem Staate gegen-
über durch unabhängige Gerichte geschützt. Freilich hat sich die Staatsgewalt
nur nach langen Kämpfen dazu verstanden, sich an rechtliche Schranken zu halten,
und es hängt von der Entwicklungsstufe der einzelnen Staaten ab, ob und wie weit
sie durch ihre Rechtsätze sich selbst binden wollen.
Das große, alle Gemeinschaftsformen umfassende Gebiet des Rechtes zerfällt
in zwei Hauptabteilungen, je nachdem es die Beziehungen Einzelner ordnet, die
einander grundsätzlich nebengeordnet sind und demnach vom Rechte auf gleichem
Fuß behandeltwerden, oder die Beziehungen zwischendenTrägernvon Herrschafts-
gewalt untereinander, oder zu den dieser Gewalt Unterworfenen, oder endlich
die Organisation und Funktion der Herrschaft. Die erste Abteilung bildet der
Bereich des Privatrechtes, die zweite der Bereich des öffentlichen
Recht und Macht ist auf den Philosophen B. Spinoza (1632 bis 1677) zurückzuführen.
Die Kraft, womit die Gottheit jedes Wesenausgestattet hat, bilde, so lehrte Spinoza, zugleich den
Maßstab seines Rechtes. Auch die Rechtstheorie dermaterialistischen Geschichts-
auffassung (vergl. unten S. 25) betrachtet das Recht als den Niederschlag der auf
der Ordnung des ökonomischen Produktionsprozesses beruhenden gesellschaftlichen Machtver-
hältnisse.— 1) Vergl. Friedrich Freiherr v. Wies er, Recht und Macht, Leipzig 1910.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918