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111. Die Staatstheorien. 25
lediglich als eine durch die natürliche oder wirtschaftliche Ungleichheit ermöghchte
tatsächliche Herrschaft des Starken über den Schwachen erklärt. Unter den ver-
schiedenen Abarten dieser Theorien hat in neuerer Zeit insbesondere die von den,
sozialistischen SchriftstellernH. K.M a r xundFriedrichEngelsbegründete
materialistische Geschichtsauffassung als die Staatstheorie
der Sozialdemokratie Bedeutung erlangt. Darnach bestimmt die jeweilige Ordnung
des ökonomischen Produktionsprozesses den Aufbau der Gesellschaft und dieser
hinwieder den Staat. Der Staat sei daher in allen mustergültigen Perioden aus-
nahmslos der Staat der herrschenden Klasse und als solcher wesentlich eine Orga-
nisation zur Niederhaltüng der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse^). Nur
eine Abart dieser Auffassung ist die sogenannte soziologische Staats-
theorie, welche die Staaten auf Organisationen von erobernden Völkern oder
Stämmen zur Unterdrückung und Ausbeutung der Ureinwohner des eroberten
Gebietes zurückführen will^).
Die Machttheorie findet ihre Stütze darin, daß viele Staaten durch Kriege
geschaffen worden sind und kein Staat sich ohne die Macht behaupten kann, deren
er zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf. Allein sie vermag den Staat nicht sittlich
zu rechtfertigen, nicht zu erklären, warum seine Ziele als erstrebenswert, seine
Anordnungen als verbindlich anerkannt werden. Beruht der Staat lediglich auf
Gewalt, warum sollte dann nicht Gewalt der Gewalt begegnen dürfen, um ihn.
umzustürzen oder zu vernichten?^)
Nicht eine historische Erklärung, sondern eine vernunftgemäße Rechtfertigung
des Staates bezweckt die Vertragstheorie. Unter allen Staatstheorien der
neueren Zeit hat sie die weitestgehenden politischen Folgen gehabt. Anklänge an
den ihr eigenen Gedanken, daß der Staat aus einer freiwilligen Vereinigung hervor-
gegangen sei, zu der die Menschen sich zusammengeschlossen hätten, um sich vor
Schaden und Unrecht zu bewahren, lassen sich ja weit zurückverfolgen. Ähnliches,
haben schon im Altertum die Sophisten und die Epikuräer gelelirt. Im Mittelalter
wird die Begründung, wenn auch nicht des Staates, so doch der Fürstengewalt
durch Übertragung seitens des Volkes erklärt und dies mit Belegstellen aus dem
Corpus juris, späterhin auch aus dem AltenTestamente beglaubigt. Die Natm-
rechtsschule hat diesen Gedanken aufgenommen und vertieft; nicht nur die
Herrschergewalt, den Staat selbst leitet sie aus einem Vertrage ab, dessen Inhalt
für die Staatsverfassung und für das Verhältnis zwischen Staat und Individuum
maßgebend sei. In den Kämpfen um die Ausbildung und dann wieder um die
Einschränkung der absoluten Fürstengewalt bedienen sich beide Teile dieser
Argumentation; sie beherrscht bis in das 19. Jalu-hundert hinein das pohtische
Denken.
*) Vergl. Th. G.M a s a r y k, Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxis-
mus,Wien, 1899.— ^) Vergl, F. p p enh e im e r, Der Staat,Frankfurt, 1907,— ^)Die Überflüssig-
keit, ja Schädlichkeit jeglicher obrigkeitlicher Gewalt, mithin auch des Staates, wird von denan-
archistischen Schriftstellernbehauptet.AlsAnarchismuswirddie vonihnen angestrebte Gesell-
schaftsorganisation bezeichnet, welcheden Individuen in jeder Hinsicht freie Selbstbestimmungläßt
und obrigkeitlichen Zwang grundsätzlich ausschließt. Die anarchistischen Lehren treten in der
Regel in Verbindung mit phantastischen Zukunftsplänen auf, zu deren Verwirklichung
von den extremsten Vertretern dieser Richtung eine „Propaganda der Tat" in der Form
verbrecherischer Anschläge versucht wurde. Als die -wichtigsten Theoretiker des Anarchismus-
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