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XII. Der österreichische Staat. 67
zeit entgegen. Zentralismus oder Föderalismus — Einheitsstaat oder zusammen-
gesetzter Staat? Das sind die politischen und staatsrechthchen Gegensätze,
mit welchen jede österreichische Verfassung sich auseinandersetzen muß. Was
steckt hinter diesen Schlagworten und den Verfassungsformen, die ihnen ent-
sprechen ?
DerFöderalismus willdie staatsrechtüche Selbständigkeit der einzelnen
Länder, wie sie in der ständischen Zeit bestand, erneuern und zur Grundlage der
Staatsverfassung machen. Er beruft sich dabei nicht nur auf die geschichthche
Überlieferung, sondern auch auf die weitgehenden nationalen, wirtschafthchen und
Kulturunterschiede zwischen den einzelnenLändern, denen Gesetzgebung und Ver-
waltung sich anpassen müssen. Daher seiderWirkungskreis derLandesvertretungen
aufdem Gebiete der Gesetzgebungdem Reichsrate alsdem österreichischen Zentral-
parlamentegegenüber, aufdem GebietederVerwaltungder Staatsverwaltunggegen-
über möglichst weit zu ziehen. Beides pflegtman alsA u t o n om i e zu bezeichnen,
obwohl das Wort mehr das Recht der Selbstsatzung als das der Selbstverwaltung
bezeichnet.Durch dieErweiterung derAutonomie will derFöderalismus dieLandes-
verbände zum Unterbau der staatHchen Organisation machen und ihnen wichtige
Aufgaben zuweisen, die der Zentraüsmus für den Staat in Anspruch nimmt. Indem
so die Beziehungen der Staatsbürger zum Staate vermindert, zum Landesverbände
bereichert werden, wird auch das Bewußtsein der Staatszugehörigkeit mit aUen
seinen Pflichten und Rechten abgeschwächt und durch den Gefühlsinhalt engerer
Landeszugehörigkeit ersetzt, der leicht eine nationale Färbung annimmt.
Die föderalistischen Bestrebungen gingen ursprünghch von jenen Kreisen aus,
die schon in der Ständezeit die gesellschafthche und poMtischeFührung innehatten.
Sie hofften damit ihre führende Stellung auch im Verfassungsstaate zu behaupten.
Aus nationalen und wirtschaftlichen Beweggründen schlössen sich ihnen weitere
Volksscliichten an. Denn die Autonomie entspricht ihren nationalen Wünschen:
sie erleichtert es, die Gesetzgebung und Selbstverwaltung der Länder nach den
Bedürfnissen der nationalen Meln^heit einzurichten und die Steuerkraft des Landes
im Sinne der daselbst herrschenden Parteien für die Selbstverwaltung auszunützen.
Der Zentralismus nimmt den gegenteiligen Standpunkt ein. Er wiU
die schon durch den Absolutismus geschaffene EinheitHchkeit der Gesetzgebung
und Verwaltung waliren, daher die Stellung des Zentralparlaments und der Staats-
verwaltung durch die Vertretungs- und Selbstverwaltungskörper der Länder nicht
schmälern lassen. So hofft er, die Verschiedenheiten zwischenden einzelnenLändern
einigermaßen auszugleichen und das Band staatlicher Gemeinschaft zu festigen,
nicht nur im Interesse des Staates, sondern auch der Länder. Die EinheitHchkeit
der Gesetzgebung und Verwaltung sind diejenigen gesellschaftlichen Schichten zu
wahren bestrebt, welche Volkswirtschaft, Sozialpolitikund geistige Kulturmöghchst
gleichförmig auszubilden, die Stellung und Leistungsfähigkeit des Reiches nach
außen hin zu behaupten und den Einfluß Österreichs auf die gemeinsamen An-
gelegenlieiten zu verstärken wünschen. Die nationalen Sonderbestrebungen werden
dmxh den Zentralismus insofern gehemmt, als sich im Reichsverbande eine andere
nationale Gruppierung ergibt als in den Ländern; dadurch wird das Kräfte-
verhältnis der nationalen Parteien einigermaßen ausgeghchen und die Ausnützung
nationaler Übermacht erschwert. Die engere Verbindung der einzelnen Reichsteile
erheischt den Verkelu- in einer aUen Beteihgten geläufigen Sprache und trägt so
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918