Page - 80 - in Österreichische Bürgerkunde
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so XVI. Der Monarch und die Dynastie.
Die österreichische Verfassung trifft keine Vorsorge fürden Fall, daß der Kaiser
vorübergehend oder dauernd an der Ausübung der Staatsgewalt verhindert ist. Für
den ungestörten Fortgang der Staatsgeschäftemuß jedoch in solchen Fällen gesorgt
werden ; dasgeschiehtentwederdurch S t e 1 1 v e r t r e t u n goderdurchK eg en t-
Schaft. Die erstere beruht auf einem Auftrage des — regierungsfähigen —
Monarchen und geht nicht weiter, als dieser Auftrag reicht. Hingegen umfaßt die
Eegentschaftdiegesamte Herrschergewalt. SiewirdunabhängigvondemMonarchen,
durch dessen Kegierungsunfähigkeit sie veranlaßt ist, aber in dessen Namen von
dem kraft eigenen Rechtes nach den Regeln der Thronfolge hiezu berufenen
Regenten ausgeübt^).
Die Stetigkeit der monarchischen Regierung über die Lebenszeit der einzelnen
Herrscher hinaus wird durch die Thronfolgeordnung gesichert. Die
staatsrechtliche Bedeutung des Herrscherhauses oder der Dynastie
besteht darin, daß ihr der jewei%e Herrscher dieser Ordnung gemäß entnommen
wird^). Ihre Mitglieder sind, nach Maßgabe des Familienstatuts des Hauses Öster-
reich, derHausg ew al t des Monarchen unterw^orfen; sie nehmen eine in der
geschichtlichen Entwicklung und staatlichen Bedeutung der Dynastie begründete
Sonderstellung ein, die sie durch Vorrechte, aber auch durch gewisse Einschrän-
kungen aus den Staatsbürgern heraushebt.
Innerhalb dieses Personenki'eises vollzieht sich die Thronfolge in den
Formen des Erbrechtes. Sie ist aber nicht etwa Erbfolgeim Sinne des Privatrechtes
oder der patrimonialen Staatsauffassung, sondern die verfassungsgemäße Über-
tragung der durch Tod oder Abdankung erledigten Herrschergewalt. Nach der
Pragmatischen Sanktion^) ist die Thronfolge in Österreich und
Ungarn (nunmehr auch in Bosnien und der Herzegowina) die gleiche^). Sie
beruht auf dem Rechte der Erstgeburt, woraus sich die der modernen Staats-
auffassung allein entsprechende Unteilbarkeit der Herrschergewalt in sachlicherund
räumlicher Hinsicht von selbst ergibt. Zur Thronfolge berufen sind zunächst dieaus
ebenbürtiger und vom Kaiser konsentierter EhestammendenAgnaten, d. h. die
in männlicher Linie vom ersten Erwerber der Krone abstammenden Männer, und
unter diesen wieder die Nachkommenschaftshnien (der Söhne, Brüder, Oheime usw.)
des letzten Throninhabers. Vermöge des sogenannten Repräsentationsrechtes tritt
hiebei der Deszendent an die Stelle des vor ihm verstorbenen Aszendenten. Beim
Erlöschen desMannesstammes treten diew e ib 1 i ch enNachkommen derDynastie
^) In der ungarischenVerfassung ist ein ,,Palatin" als Vormunddes minderjährigen,sowie als
Stellvertreter des behinderten und als Statthalter des außer Landes weilenden Königs vorgesehen.
Gegen die alten Palatinalartikel der ungarischen Verfassung (1485) ergeben sich schonim Hinblicke
darauf Bedenken, daß aus der Gemeinsamkeit des Regentenhauses auch die Identität des in den
beiden Gliedstaaten zur Regentschaft berufenen Organes folgt. Seit 1867 sind sie bis zu derdamals
in Aussicht genommenen Neuregelung der Palatinalwürde nach konstitutionellen Grundsätzen
außer Wirksamkeit. — ") Vergl. F. Hauke, Die geschichtlichen Grundlagen des Monarchen-
rechtes, Wien 1894. — ^) G. T u r b a, Geschichte des Thronfolgerechtes in allen habsburgischen
Ländern,Wien, 1903.— Derselbe: Die Pragmatische Sanktion (Separatausgabe aus der Österr.-
ungar. Revue, 34. Band), 1906. — Derselbe: Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion,
Wien, 1911. — *) Es besteht jedoch eine geringfügige und praktisch belanglose Abweichung
zwischen den Erbfolgebestimmungen der österreichischen und der ungarischen Pragmatischen
Sanktion.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918