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82 XVII. Der Konstitutiondismus.
Allerdings lassen sichVerfassungseinrichtungen nicht ohneweiters übertragen.
Die gleiche Schablone paßt nicht auf alle Staaten. Denn die durch die Verfassung
zu regelnde staatliche Organisation des Volkes ist durch seine geschichtliche und
gesellschaftliche Entwickelung bedingt. DieWirksamkeit derVerfassung hängt von
derGesinnungundEignungderMenschenab,denensie—alsWählernundGewählten
— die öffentlichenAngelegenheitenanvertraut. DieEigenschaften, diederParlamen-
tarismus voraussetzt,werdennurdurch langjährige pohtischeÜbungund Erziehung
erworben; nur durch Überlieferung von Generation zu Generation gehen sie in
Fleisch und Blut über. Unter der Herrschaft des Absolutismus und des Polizei-
staates konnten sie nicht entstehen. Darum war der Übergang zu konstitutionellen
Einrichtungen und zur Selbstverwaltung, ebenso wie jeder weitere großeFortschritt
aufdiesemWege mit Schwierigkeitenverbunden, die in manchen Staaten noch nicht
völlig überwunden sind.
2. Der Repräsentativgedanke.
Im Gegensatze zu den Ständen, die dem Monarchen gegenüber in erster Linie
ihre eigenen Interessen vertraten^), sind sowohl die „Kammern" oder „Häuser"
der modernen Parlamente als auch ihre Mitglieder Organe zur verfassungsmäßigen
Bildung des StaatswiUens und zur Kontrolle der Staatsverwaltung. Als Volks-
vertretung werden sie in einem doppelten Sinne bezeichnet : im Rechtssinne,
indem der Wille dieser Organe als Gesamtwille des staatlich organisierten Volkes
gilt; politisch, indem angenommen wird, daß er der öffentlichen Meinung ent-
sprechen werde, von welcher die Wahlergebnisse ja abhängen. Daraus wird die
demokratische Forderung abgeleitet, daß die Zusammensetzung der Vertretungs-
körper ein getreues Abbild der in der Bevölkerung vorhandenen Parteien nach
Richtung, Gewicht und Stärke bilden solle, woraus sich weitergehende Folgerungen
für die Ordnung des Wahlrechtes ergeben^).
Trotzdem die zweiten, inRepubliken auch die ersten Kammern derParlamente
durch Wahl gebildet werden^) sind die Parlamente nichts anderes als Staat s-
Organe. Als solche sind sie verpflichtet, die ihnen durch die Verfassung zu-
gewiesenen Aufgaben in den Formen ihrer Geschäftsordnung zu erfüllen. Nicht
Sonderinteressen dem Staate gegenüber, sondern das Staatsinteresse selbst haben
sie wahrzunelmien. Wenn das Parlament Gesetzentwürfen zustimmt, Steuern,
Ausgaben, Relauten, Anlehen bewiUigt, Staatsverträge genehmigt, so tut es das
nicht der Regierung zuliebe, sondern weil es fürden Staat und die durchden Staat
zu verwirklichenden Volksinteressen notwendig oder nützlich ist. Sachliche Er-
wägungen müssen also die Haltung des Parlamentes bestimmen. Unterläßt es das
Parlament, die ihm durch die Verfassung zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen, oder
wird es durch Ausbleiben (Abstinenz), dengewaltsamen Widerstand oderMißbrauch
der Geschäftsordnung seitens der Minderheit (Obstruktion) daran gehindert, so
ist das ein Bruch der Rechtsordnung. Es gibt kein Mittel ihn zu verhindern oder
zu sühnen; die Auflösung des Abgeordnetenhauses ist ja keine Strafe sondern eine
politische Maßnahme. Aber wie jede Rechtsverletzung hat auch diese eine weiter-
gehende Schädigung des Gemeinwohles zur Folge, worunter mit der Gesamtheit
*) Vergl. S. 32.— *) Vergl. unten S. 85 ff. — *) Auch in vielen monarchischen Staaten
wird ein Teil der Mitglieder der ersten Kammer durch Wahl bestellt.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918