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XVII. Der Konstüutionalismus. 89
noch der alle andern Einteilungsgründe überragende Unterschied der Nationalität,
in Ungarn überdies die Frage der Fortbildung des Verhältnisses zu Österreich.
Aus der Kombination derartiger Gesichtspunkte ergibt sich eine weitgehende
Zersplitterung der Parteien. Sehr zum Schaden des Parlamentarismus. Er kann nur
dortglattarbeiten,wo dieKammern, wie inEngland, unterZurückstellunggeringerer
oder augenblicklich praktisch belangloser Meinungsverschiedenheiten sich in zwei.
Parteien (whigs und tories) gliedern, die einander in der Regierung ablösen, je
nachdem sich die Mehrheit des Landes bei den Wahlen für die eine oder andere
Partei entschieden hat. Oder richtiger: nicht für die Partei als solche, sondern für
ihre Auffassung in den Dingen, die demnächst zur Entscheidung kommen werden.
Das englische Zweiparteiensystem ist also ein Mittel, um die zeitgemäßen Fragen
der Gesetzgebung im Sinne der Mehrheit des Landes zu lösen, dessen Entscheidung
nicht nur nach dem Ablauf der Wahlperiode, sondern durch die Auflösung der
zweiten Kammer und Ausschreibung von Neuwahlen auch dann angerufen wh'd,
wenn es fraglich ist, ob die Parlamentsmehrheit noch die Wähler hinter sich hat.
Der Zusammenschluß der kleineren Parlamentsfraktionen oder verschiedener Par-
teien, deren keine für sich allein die Mehrheit besitzt, ist die Voraussetzung dafür,
daß eine parlamentarische Regierung gebildet werden könne, welche die Geschäfte
imSinne dieser„Koalition" führt und dafür von den koalierten Parteien unterstützt
wkd. Wo die Voraussetzungen einer parlamentarischen Regierung in den Partei-
verhältnissen nichtgegeben sind, können die Geschäfte lediglichnach denWeisungen
desMonarchen geführt werden, der den Parteibestrebungenundwechselnden Partei-
gruppierungen gegenüber das Staatsinteresse wahrnimmt.
Parteien sind also notwendig, um die Wähler für die Wahlen, die Gewählten
für die Tätigkeit in den Vertretungskörpern zu organisieren. Sie sind das Mittel,um
die Meinungen und Wünsche der Einzelnen zusammenzufassen und politisch wirk-
sam zu machen. Nm* in diesem Sinne : als Mittel zum Zweck, nicht als Selbstzweck
haben sie Berechtigung. Jede Partei verfolgt ja an sich berechtigte Interessen.
Aber die Durchsetzung derselbenwirdgehemmt durch die nichtminder berechtigten
Interessen der anderen Parteien. Es liegt imWesen der Parteien, daß jede ihre An-
schauungsweise als die allein richtige, ihr Interesse als das Staats- oder Gemein-
interesse hinstellt. Darin liegt ein Stück Wahrheit und viel Irrtum. Denn alle Par-
teien erwarten die Erfüllung ihrerWünschevom Staate. Der Staat ist aber der Staat
aller Parteien; er darf sich nicht ausschließlich in den Dienst dieser oder jener
Partei stellen. Erst aus dem Widerspiel der Parteiinteressen ergibt sich die Mittel-
linie des Gemeinwohles. Ebenso wie jeder Einzelne bei der Verfolgung seiner Ziele
und Wünsche auf seine Mitmenschen achten muß, schulden auch die Parteien
einanderDuldungund Rücksicht. Der Parteigegner ist nicht etwa ein Feind, sondern
ein Mitbürger, der über gewisse Angelegenheiten des öffentlichen Lebens anders
denkt als wir und dafür wahrscheinlich seine guten Gründe hat. Alle Parteien sind
aufeinander angewiesen undmüssen miteinanderauskommen. Daswirdumso besser
gelingen, je mehrw das relativ Berechtigte der gegnerischen Ansichten und Be^
strebungen verstehen lernen. Es ist Bürgerpfhcht, in den Fragen des öffentlichen
Lebens Stellung zu nehmen und Partei zu ergreifen. Aber nur auf Grund reiflicher
Einsicht, die beide Seiten der Frage erwägt. So nützlich, ja unentbehrlich Parteien
sind, so gefähi-lich kann die Parteischablone, so unerträglich die Parteiherrschaft
werden, vollends wenn sie in geschäfthche oder gar amtliche Begünstigung der
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918