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90 XVIII. Der österreichische Reichsrat.
Parteigenossen und ebensolche Benachteiligung der Parteigegner ausartet. Dann
vergiften die Parteigegensätze das politische und gesellschafthche Leben und die
Parteien werden anstatt zu Hilfsmitteln zu Hemmnissen des Staatswohles und der
gesellschaftlichen Entwickelung.
Der Wert des Konstitutionalismus liegt nicht etwa in dem parlamentarischen
Regierungssystem, sondern in der Organisation der im Volke lebendigen Kräfte
und Bestrebungen für den Staat. Er ist das Mittel, um bei der Gesetzgebung aus
dem Gegenspiel derMeinungen dieMitteUinie des Gemeinwohles ausfindig zumachen,
und eine Gewähr dafür, daß die Grundsätze des Rechtsstaates von der Verwaltung
eingehalten werden. Ein gewaltiger politischer Fortschritt gegenüberdemAbsolutis-
mus selbst dann, wenn die schöpferische Kraft versagt, die man dem Parlamentaris-
musfrüherzugetrauthat. Mandarf dabeinichtübersehen, daß dieparlamentarischen
Einrichtungen der meisten europäischen Staaten noch jung, nicht Ergebnisse einer
allmählichen Entwickelung, sondernausländischenVorbildernnachgebildet sindund
sich noch besser einleben müssen. Sie setzen die politische Erziehung des Volkes
voraus und sind selbst das beste Mittel politischer Erziehung. Aber erst in späteren
Generationen wird sie vollendet sein. Denn ebensowenig wie im organischen Leben
gibt es im Leben der Völker sprunghafte Übergänge. Jede Neuerung ist das Er-
gebnisallmähhcher Entwickelung, jeder Fortschritt bedingt Anpassung des Lebens
an die Form und ist in letzter Linie eine Frage der Reife.
Die hier nicht besonders hervorgehobenen Seiten des Konstitutionalismus
werden im nächsten Kapitel gelegentlich der Darstellung des österreichischen Par-
lamentsrechtes erörtert werden, so insbesondere die Kontrollbefugnisse des Par-
lamentes und die damit in enger Verbindung stehende JVIinisterverantworthchkeit.
XVIII. Der österreichische Reichsrat.
1. Der Geschäftskreis.
Die Entstehungsgeschichte des österreichischen Reichsrates ist im X. Kapitel,
der Kampf des Zentralismus und des Föderalismus um seine Gestaltung und seinen
Geschäftskreis im XIL Kapitel besprochen worden. In diesem Abschnitte ist zu-
nächst der Geschäftskreis zu erörtern. Er zerfällt in zwei große Gruppen: Älit-
wii'kung bei der Gesetzgebung und Kontrolle der Verwaltung. Die Mitwirkung bei
der Gesetzgebung besteht in der Beschlußfassung über den Inhalt der Gesetz-
entwürfe, die durch den Gesetzesbefehl (Sanktion) des Kaisers zum Gesetze werden.
Der Verwaltungskontrolle dient eine Reihe von Berechtigungen, durch welche jedes
der beiden Häuser des Reichsrates nicht nur die laufende Verwaltung zu prüfen,
sondern auch Einfluß auf die künftige Richtung^ derselben zu nehmen vermag.
Jedes der beidenHäuser ist endlich,um die geregelteund ungestörteErfüllung seiner
Obliegenheiten sicherzustellen, befugt, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen
und zu verwalten.
Das Grundgesetz über die Reichsvertretungvom 21. Dezember 1867, R,-G.-Bl.
Nr. 141, grenzt den Wirkungskreis des Reichsrates den Landtagen
gegenüber ab. Nach § 11 dieses Gesetzes umfaßt er alle Angelegenheiten, welche
sich auf Rechte, Pfüchten und Interessen beziehen, die allen im Reichsrate ver-
tretenen Königreichen und Ländern gemeinschaftlich sind, soweit sie nicht zu den
nach dem Ausgleich mit Ungarn gemeinsamen Angelegenheiten gehören, für welche
die Delegationen bestellt sind.
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918