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XXII. Das Staatsvolk. 119
schließlich auch in der staatlichen Ordnung ihren Ausdruck. Einen solchen Um-
schwung hat auch die „staatsbürgerliche" Gesellschaftsordnung mit sich gebracht.
Sie ist an die Stelle der alten ständischen Gliederung getreten, die jedem seinen
Platz schon durch Geburt anwies. Als „liberal", zu deutsch freiheitlich, wird die
neue Ordnung deswegen bezeichnet, weil sie die Menschen aus der früheren Ge-
bundenheit des Daseins löste und der geistigen und wirtschaftlichen Bewegung
freie Bahnen eröffnete.^) Da jedoch das Kulturleben nur in gesellschaftlichem Zu-
stande möglich ist, sind an die Stelle der absterbenden Gesellschaftsformen andere
getreten, die der neuen Geistesrichtung, der modernen Staatsauffassung und der
gegenwärtigen Ordnung der volkswirtschaftlichen Produktion entsprechen.2) Die
alten Geburtsstände sind durch eine auf den Berufs- und Besitzverhältnissen be-
ruhende Gliederung der Bevölkerung ersetzt worden, die ihre Organisation teüs
selbst geschaffen, teils vom Staate vorgezeichnet bekommen hat.^) Man pflegt die
dai-auf beruhenden gesellschaftlichen Bildungen als Berufsstände zu be-
zeichnen. Als Organisationen voraus wirtschaftlicher Interessen trachten sie Ein-
fluß auf den Staat zu gewinnen, um ihre Anliegen an die Gesetzgebung und Ver-
waltung durchzusetzen. Die Berufsstände gliedern sich nach den Hauptzweigen
und -formen der wirtschaftlichen Tätigkeit; insbesondere treten hier die Gegen-
sätze zwischen Landwirtschaft und Industrie, zwischen Rohstoff-und Fertig-
produktion, zwischen Groß- und Kleinbetrieb als organisatorisches Prinzip zu
Tage. Siewerden durchkreuzt durch einen andern, in alle Lebensbeziehungennoch
tiefer eingreifenden Gegensatz, der auf der Verteilung des Besitzes beruht; durch
den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Unternehmer- und Arbeiter-
interessen. Auf diesem Gegensatze benihen die sozialen Klassen. Sie
schließen Angehörige verschiedener Berufe zur Wahrnehmung ihi'er gemeinsamen
Klasseninteressen zusammen.
Die auf wirtschaftlicher Grundlage beruhenden gesellschaftlichen Schich-
tungen sind mit der Entwickelung der Volkswirtschaft immer wichtiger für das
staatliche Leben geworden; aber sie haben ältere Motive sozialer Gruppen-
bildung nicht verdrängt. Nach wie vor bestehen und entwickeln sich immer aufs
neue örtliche Interessenkreise, die in den Gemeinden, in Bezirk und Land oder
in freiem Zusammenschlüsse organisiert sind. Insbesondere aber sindGlaubens-
bekenntnis und Volkstum oder Nationalität von größter Wich-
tigkeit für die Gliederung des Staatsvolkes auch in politischer Hinsicht.*)
^) Die in dieser Absicht durch die Verfassung gewährleisteten ,,Freiheitsrechte" werden
im XXV. bis XXXI. Kapitel dargestellt. — ^) Über die wirtschafts- und sozialpolitischen Fol-
gerungen vergl. das XLII. Kapitel. — ') Man deake an die besondere Stellung des geistlichen
Standes, des Beamten-, Militär- undLehrstandes, an dieZwangsorganisation des Gewerbestandes
in den gewerblichen Genossenschaften, der Landwirtschaft in den landwirtschaftlichen Berufs-
genossenschaften, an die Ärzte-, Advokaten- und Notariatskammern, an die zahllosen in der
freieren Form von Vereinen bestehenden Berufsorganisationen usw. — *) Der Liberalismus,
der ja dem Gedankenkreise der Aufklärung, der Humanität und des Weltbürgertums
entstammt, hat die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Glaubensbekennt-
nisses und der nationalen Zugehörigkeit unterschätzt. Er achtete sie als persönliche Über-
zeugungen, aber er verkannte ihre alle Lebensbeziehungen umfassende Macht über die Gemüter,
ihre organisatorische Kraft und daher auch ihre Wichtigkeit für die Stellung der Lidividuen als
Glaubens- und Volksgenossen im Staate und zum Staate.
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918