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XXIIL Die Staatsbürgerschaft. 121
Ähnlich wie von den meisten andern Lebensbeziehungen wird auch von der
Staatsbürgerschait nur ein Teil ihres Inhaltes vom Rechte erfaßt. Das Verhältnis
des Bürgers zu seinem Staate ist voraus sittlicher Natur; es ist ein Bund
gegenseitiger Treue, der auf allem beruht und alles umfaßt, was der Staat jedem
Einzelnen und jeder Einzelne dem Staate ist. Das Gefühl für die ungeheure
Bedeutung der staatlichen Gemeinschaft und aller der Kulturgüter, die wir ihr
verdanken, verbindet sich mit verwandten Empfindungen : mit Landschafts- und
Heimatsgefühl, mitgeschichthchenÜberheferungenund wirtschaftlichen Interessen,
mit dem erst im Staate vollendeten Bewußtsein desVolkstums. Mächtig verstärkt
wird es durch die Übereinstimmung mit der großen Masse der Mitbürger, so daß,
was in jedem einzelnen still geschlummert, zur großen Woge der Volksbegeisterung
wird, wenn wir in Tagen gemeinsamen Glückes oder gemeinsamer Not des hohen
Gutes uns bewußt werden, das wir im Staate besitzen. Verstandesgemäß beurteilt
erscheint demnach die Erfüllung der Pflichten gegen den Staat als der Preis dessen,
was er für unsere Wohlfahrt leistet. Aber es wäre kärglich, hier Leistung und
Gegenleistung wie bei einem Handelsgeschäfte abzuwägen; der sittlichen Würde
des staatlichen Verhältnisses entspricht unberechnete TreueundHingabe aus freiem
Antriebe wie an die Familie und die andern großen Gemeinschaften, die unser
Lebenumfriedenund festen. Für sie aUe bildet der Staat die Grundlageund Gewähr;
darum gipfeln alle andern Gemeinschaftsgefühle im Staatsgefühle.
Nur ein Ausschnitt aus diesen mannigfachen Beziehungen ist dem Rechte
zugänglichundwirddurch Rechtssätze ausdemBereiche sittlicherPflichtzuzwangs-
weise durchsetzbaren Rechtsansprüchen des Staates an den Bürgerund des Bürgers
an den Staat erhoben. Es ist das Mindestmaß dessen, was zur Sicherung der Staats-
zwecke erforderlich ist, die ja schließlich doch nur durch die Staatsbürger und
um der Staatsbürger wiUen durchgeführt werden. Aus der allgemeinen Treupflicht
entspringt die Gehorsamspflicht gegenüber dem Staate : die Pflicht den
Gesetzen und den zu ihrer Durchführung erlassenen behördlichen Anordnungen
Folge zu leisten; nur ein Ausfluß dieser Gehorsamspflicht istweiterhindieVerpflich-
tung zu Leistungen^) oder Diensten für den Staat oder mi öffentlichen Interesse.^)
Diese Pflichten sind nach Art und Maß durch das Gesetz geregelt ; ihre Erfüllung
wird je nach ihrer Besonderheit durch die Zivil-, Straf- oder Verwaltungsrechts-
pflege und durch die zwangsweise Vollziehung der Aussprüche der Gerichte und
Verwaltungsbehörden gesichert. Inhaltlich sind die durch das öffentliche Recht
auferlegten Verpflichtungen so vielgestaltig wie die Verwaltung selbst; nur die
wichtigsten derselben können späterhin im Zusammenhange mit den betreffenden
Verwaltungszweigen einzeln erörtert werden.
In einem weiteren Sinne gehören zu den staatsbürgerlichen Pfüchten auch
diegesellschaftlichen oder sozialen Pflichten, die nicht durch
das Recht und nurzum Teile durch die Sitte geregelt sind, zur Gänze aber den For-
<lerungen der christhchen Sittenlehre entsprechen. Die Hast des Erwerbes und das
Streben nach materiellem Genuß bringen es allerdings mit sich, daß ihre Gebote
von vielen hintangesetzt werden. Aber je mehr das moderne Wirtschaftsleben
^) Steuern und Abgaben, Einquartierung, Spannleistungen usw.— *) So z. B. die Wehr-
und Landsturmpflicht, die Pflicht, behördlichen Vorladungen Folge zu leisten, vor Gericht
als Zeuge auszusagen, die Geschwornenpflicht, die Wahlpflicht, die Pflicht zur Annahme von
gewissen Ehrenämtern der Staats- und Selbstverwaltung.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918