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148 XXXIV. Privatrecht und Zivilprozeß.
entwickelung wurde es nach sorgfältigen Vorarbeiten mit dem kaiserlichen Patente
vom 1. Juni 1811 kundgemacht; am 1. Jänner 1912 ist es in Wirksamkeit getreten.
Das deutsche Privatrecht des Mittelalters war nach Landschaften und Wirt-
schaftskreisen verschieden. Auf dem flachen Lande entsprach es der natural-
wirtschafthchen Entwickelungsstufe,in den Städten paßte es sich den gesteigerten
Verkehrsbedürfnissen allmählich an. Besserkam ihnen die Aufnahme des römischen
Rechtes, wie es zu jener Zeit in den Rechtsschulen Italiens gelehrt wurde, entgegen.
Es war das Recht eines hochentwickelten geldwirtschaftlichen Verkehrs, durch
Kodifikation gesichert, durch eine berühmte Literatur geklärt und geläutert,
durch iliren Bildungsgang Gemeingut der rechtsgelehrten Richter, in deren
Händen seit dem Ausgang des Mittelalters und dem Erstarken der landesherrlichen
Gewalt die Rechtsprechung lag^). Im Gegensatze zu den alten Partikularrechten
wurde es zum gemeinen Rechte. Unter dem Einflüsse der ,,Aufklärung", die
im 18. Jahrhunderte eine neue Natur- und Gesellschaftsauffassung einleitete,
beginnen im 18. JahrhundertdiegroßenKodifikationen. Sie setzen sich die Aufgabe,
ein Recht zu schaffen, ,,das mit uns geboren", den Bedürfnissen der Gegenwart
entspricht, in ein einziges Buch zusammengefaßt und in deutscher Sprache nieder-
geschrieben ist. Der Gedanke, die einzelnen Länder durch die Gemeinschaft des
Rechtes enger zusammenzufassen, lag ganz in der Richtung der österreichischen
Gesamtstaatsidee. Schon Maria Theresia hatte diesen Gedanken gefaßt und 1753
eine Kommission hiefür eingesetzt, Josef IL den ersten Teil (das Personenrecht
enthaltend) ihres umgearbeiteten und verkürzten Entwurfes in Wirksamkeit
gesetzt. Mittlerweile war in dem preußischen Landrechte (1794) ein neues Muster
gegeben, in dem Code civil des Franpais (Code Napoleon, 1804) aber das Beispiel
eines für denganzenStaat streng einheitlichenmodernenRechtes geschaffenworden.
Nun gelangten auch die Arbeiten zur Schaffung eines österreichischen Privat-
rechtes zum Abschlüsse. Es beruht auf dem gemeinen Pandektenrechte jener
Zeit, verwertet aber auch die Rechtsbildungen der österreichischen Landesgesetz-
gebung und steht unter dem Einflüsse der naturrechtlichen Ideen seines Zeit-
alters. Alles in allem ein hervorragendes Werk der Gesetzeskunst, das ein volles
Jahrhundert den Bedürfnissen des Rechtslebens genügt hat. Erst in letzter Zeit
sind Einleitungen getroffen worden, um einzelne Teile, die den fortgeschrittenen
Bedürfnissen nicht entsprechen, umzuarbeiten, zu ergänzen und zu verbessern^).
Als ein allgemeines Gesetzbuch wird das österreichische in einem
doppelten Sinne bezeichnet: zunächst geographisch, indem es an die Stelle der
partikulären Rechtsbildungen der einzelnen österreichischen Erbländer getreten
ist. Dann aber auch im Gegensatze zu dem ,,speziellen" Privatrechte bestimmter
Wirtschaftskreise, das wie Handels-, Wechsel-, See-, Berg-, Urheberrecht usw.
durch besondere Gesetze geregelt wird. Auch das zweite Beiwort im Titel unseres
Gesetzbuches, das Wort „b ü r g e r 1 i c h", hat eine mehrfache Bedeutung. Dem
ursprünglichen Wortverstande nach bedeutet es den Gegensatz zu einem bäuer-
lichen, dem Besitzinteresse der vorwiegend natufalwirtschaftlichen Wirtschafts-
stufe angepaßten Rechte, also das Recht der gcldwirtschaftlichen Verkehrs-
*) Vergl. oben S. 46. — *) Eine kräftige Anregung zur Fortbildung des österreichischen
Privatrechtes liegt darin, daß das Deutsche Reich seit dem Beginne des zwanzigsten Jahr-
hunderts in seinem bürgerlichen Gesetzbuch ein neues, modernes und für das ganze Deutsche Reich
einheitliches Privatrecht besitzt.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918