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XXXIV. Privatrecht und Zivüprozeß. 149
stufe, die zuerst in den Städten erreicht wurde und von diesen aus ihren Einfluß
aUmählich auf das flache Land erstreckte. Daraus entspringt im Sinne städti-
scher Freiheit weiterhin der politische Gedanke eines Rechtes, das von dem Grund-
satze staatsbürgerlicher Freiheit und Gleichheit ausgeht. So verwirklicht
denn das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch die Anforderungen der liberalen
Staats- und Gesellschaftsauffassung, die durch das Naturrecht und die „Auf-
klärung" vorbereitet worden war. Es gewährt allen Personen ohne Unter-
schied des Geschlechtes^), des Standes, des Glaubensbekenntnisses und der Staats-
angehörigkeit^) die gleiche Rechtsfähigkeit^) und steht grundsätzlich auf dem
Standpunkte der Freiheit des Eigentums*), der Vertragsschließung und der letzt-
wühgen Verfügung.
Der soziale Gedanke, die Handlungsfreiheit des Einzelnen zu be-
schränkenim InteressederGesamtheit,insbesondere deswirtschaftlich Schwächeren,
war der Zeit, in der das a. b. G. B. enstand, nochfremd.AberergreiftinderGegen-
wart immer mehr durch und ist vom Boden des Verwaltungs- und Exekutions-
rechtes aus auch in das Privatrecht eingedrungen. Denn jene Rechtsgebiete sind
einer sozialen Auffassung leichter zugänglich. Immer mehr Lebensgebiete, die
früher der freien Übereinkunft der Parteien überlassen waren, werden von der
öffentlichen Verwaltung ergriffen und im Zusammenhange damit auch in zivil-
rechtlicher Hinsicht neu und in sozialem Geiste geregelt, so z. B. der Arbeits-
vertrag unter dem Gesichtspunkte des Arbeiterschutzes. Wegen des Zusammen-
hanges mit dem Verwaltungsrechte werden einige der wichtigsten Bestimmungen
dieserArt imXLIV.undXLVI. Kapitel zu erwähnen sein. Das Gleiche gilt vonden
früher erwähnten speziellen Rechtsgebieten, wie Agrar-, Urheber-, Versicherungs-
recht. Auch siegehörennichtnurdemPrivatrechte, sondernvermögedes Eingreifens
der öffentlichen Gewalten mehr- oder weniger auch dem Verwaltungsrechte an und
werden daher vondiesem letzteren aus, soweit es der Zweck diesesBuches erfordert
und gestattet, betrachtet werden.
Hier ist aus dem Umkreise der speziellen Privatrechtsgebiete nur eines heraus-
zugreifen: das Handels- und "Wechselrecht. Es ist derjenige Teü
des Privatrechtes, der für den Handelsstand und die Handelsgeschäfte gilt. Ur-
sprünglich das Zunftrecht der Kaufleute in ihren Rechtsgeschäften untereinander
und in Handelsgeschäften mit dritten, gehandhabt von ihrem Innungsgerichte
oder einer besonderen Abteilung des städtischen Gerichtes, wird sein sachliches
Anwendungsgebiet nunmehr dem allgemeinen bürgerlichen Rechte gegenüber
in doppelter Weise abgegrenzt : durch die Umschreibung des Begriffes des Kauf-
mannes sowie der Rechtsformen der kaufmännischenUnternehmung und durch
die Aufzählung der einzelnen zum Handel im volkswirtschaftlichen Sinne ge-
hörigen Geschäfte, die als „Handelssachen" anzusehen sind.
*) JedochgewisseBeschränkungen der Frauen.— *)Den Staatsfremdenwird die volle Eechts-
fähigkeit unter der Voraussetzung gewährt, daß ihr Heimatstaat die österreichischen Staats-
angehörigen ebenfalls wie die seinigen behandelt.— ^) Abgesehen von gewissen Beschränkungen,
die auf besonderen Rechtsgrundlagen beruhen.— *) Doch hat das allgemeine bürgerliche Gesetz-
buch die Sonderbestimmungen hinsichtlich des freien Verkehrs mit Grund und Boden nicht be-
seitigt. Sie sind erst infolge der Einwirkiuig der wirtschaftspolitischen Grundsätze der Ver-
fassung von 1867 gefallen. Vergl. das XLIII. Kapitel.
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Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918