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150 XXXIV. Privatrecht und Zivilprozeß.
Das Bedürfnis nach Rechtseinheit hat sich auf dem volkswirtschaftlichen
Gebiete früher und mächtiger geltend gemacht wie im übrigen Privatrecht. Es
hat zur Schaffung einer allgemeinen deutschen Wechselordnung (1847 und 1848)
und eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches (1857—1861) für das Gebiet
des ganzen deutschen Zollvereines geführt. Österreich ist dieser Rechtsgemein-
schaft beigetreten, indem die allgemeine Wechselordnung durch das kaiserliche
Patent vom 25. Jänner 1850, das allgemeine Handelsgesetzbuch durch das Gesetz
vom 17. Dezember 1862 auch fürÖsterreich als Gesetz eingeführt wurden. Durch
die Fortbildung des Handelsrechtes im Deutschen Reiche ist die Rechtsgemein-
schaft allerdings in wichtigen Punkten zerrissen worden. Auch in Österreich sind
seit der Einführung des allgemeinen Handelsgesetzbuches zahlreiche und wichtige
Teüe des Handelsrechtes durch Sondergesetze, die sogenannten handelsrechtlichen
Nebengesetze, ausgestaltet worden^).
Die Rechtsschutztätigkeit der Gerichte (der Zivilprozeß) zerfällt
in zwei Abschnitte. In dem ersten, dem Erkenntnisverfahren, wird in der Form
des Urteils über die Zulässigkeit der Klage und der Bestand des behaupteten
Rechtes entschieden. Der zweite TeU, das VoUstreckungsverfahren, setzt nur ein,
wenn der Verurteilte das ihm Auferlegte nicht freiwillig leistet. Dann wird er durch
die Vollzugsorgane des Gerichtes dazu gezwungen.
Das ordentliche Verfahren vor den österreichischen Zivilgerichten war bis
zu der durchgreifenden Reform, die gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts
durchgeführt worden ist, durch veraltete „Gerichtsordnungen" geregelt, die noch
aus der Zeit der großen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts stammen. An ilire
Stelle sindam 1. August 1895 neue Gesetze über die Ausübung der Gerichtsbarkeit
und die Zuständigkeit der Gerichte (Jurisdiktionsnorm) sowie über das
gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozeß-
ordnung) getreten. Dazukamam 27. Mai 1896 das Gesetz über das Exekutions-
und Sicherstellungsverfahren (Exekutionsordnung). Diese Gesetze sind
am 1. Jänner 1898 in Wirksamkeit getreten. Sie tragen nicht nur der Vorschrift
der Verfassung hinsichtlich der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens
Rechnung, sondern verwirklichen auch die Raschheit und Zuverlässigkeit der
Rechtsfindung und -Durchsetzung in einer anderwärts noch nicht erreichten Voll-
kommenheit, gelten daher im Auslande in vielenHinsichten als mustergültig für
die Fortbildung des Zivilprozeßrechtes^).
Den Verlauf des Zivüprozesses (und weiterhin des Strafprozesses) zu be-
schreiben, würde zu weit führen. Hier können nur einige ganz allgemeine Grund-
sätze des Verfahrens besprochen werden. Zunächst die sogenannteVerhandlungs-
maxime. Sie gestaltet den Prozeß zu einem Kampf der Parteien um ihr Recht:
Der Rechtsschutz wird nur auf Verlangen des Verletzten und nur soweit der Ver-
letzte es begehrt, gewährt. Nach dem Grundsatze des beiderseitigen Gehörs ist
jedem Teüe gleichmäßig Gelegenheit zur Wahrung seiner Rechte gegeben. Die
sogenannte Einheit der Verhandlung bringt es mit sich, daß die Angriffs- und
Verteidigungsmittel biszum Schlüsse der Verhandlung vorgebracht werden können.
^) Vergl. z. B. hinsichtlichder Unternehmungsformen diezum 3. Abschnitte des XLII. Kapitels
angemerkten Gesetze.— ^) Vergl. E. Schrutka Edler von Rechtenstamm: Grundriß
des Zivilprozeßrechtes aus „Grundriß des österreichischen Rechts",
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book Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Title
- Österreichische Bürgerkunde
- Author
- Heinrich Rauchberg
- Publisher
- Verlag von F. Tempsky
- Location
- Wien
- Date
- 1911
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.4 x 24.0 cm
- Pages
- 278
- Categories
- Geschichte Vor 1918