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66 Andrea Rzihacek und Christoph Egger
Betreiben Sickels Ottenthal vorgezogen wurde. Dies mag Tangls innere Distanz zu seinem
Lehrer vergrößert haben.
Das von Tangl gemeinsam mit Harry Bresslau und Karl Brandi gegründete „Archiv für
Urkundenforschung“, dessen erster Band 1908 erschien, sollte „eine Vereinigungsstelle sein
für solche gelehrten Untersuchungen, die den Umfang von Zeitschriftenaufsätzen über-
schreiten, insbesondere für alle allgemeinen und systematischen Arbeiten auf dem Ge-
biet der Urkundenwissenschaft im weiteren Sinne“189. Ziel war es, einer gegenüber der
Sickel’schen diplomatischen Schule erweiterten „neuen Diplomatik“ Stimme zu verleihen.
Diese sollte nicht auf die Untersuchung streng diplomatischer Fragen wie Fälschungskritik,
Schrift- und Diktatvergleich sowie kanzleigeschichtliche Gesichtspunkte beschränkt blei-
ben, sondern als erweiterte – vergleichende und angewandte – Diplomatik auch behörden-
organisatorische, verfassungs-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte einbeziehen
und zudem die „Bedingtheiten“ und damit die „historische Verwendbarkeit der urkundli-
chen Quellen“190 untersuchen – Gesichtspunkte, deren Berücksichtigung auch heute noch
den großen Reiz, aber auch die große Herausforderung für Urkundeneditoren darstellt.
Außerdem wurde die programmatische Ausdehnung der diplomatischen Studien nicht
nur hinsichtlich der zu berücksichtigenden Quellengattungen auf andere nicht erzählende
Quellen – wie etwa Konzepte und Briefe, ja sogar Urbare, Stadtbücher und Stilübungen
–, sondern sowohl auf die antiken Voraussetzungen des europäischen Urkundenwesens als
auch auf dessen Weiterentwicklung zum neuzeitlichen Aktenwesen gefordert. Obwohl das
Archiv für Urkundenforschung auch Editionen offenstand, war von den Herausgebern aus-
drücklich beabsichtigt, dass „die Untersuchung und Verarbeitung stets den Vortritt haben
soll vor der Edition“191. Die Förderung der „allgemeine[n] Geschichte als Wissenschaft“ war
den Herausgebern wichtiger, wie betont wurde, als die Schaffung „neuer Spezialitäten“192.
Auf die Motive, die Bresslau, Brandi und Tangl zur Gründung der neuen Zeitschrift
veranlassten193 und die Missverständnisse und Kritik hervorrufenden – wohl zumindest
189 Vgl. das programmatische Geleitwort der Herausgeber : Einführung, in : AUF 1 (1908) 1–4, die hier zitierte
Stelle ebd. 1.
190 Ebd. 2.
191 Ebd. 3.
192 Ebd. 4.
193 Bresslau war bei der Bestellung des Vorsitzenden der Zentraldirektion der MGH 1903 nach dem Tod
Dümmlers kalt übergangen worden. Bei Brandi dürften die gescheiterten Bemühungen Kehrs, zunächst in
Göttingen und dann in Berlin ein großes hilfswissenschaftliches Institut, an dem Projekte der MGH, eine
Archivschule sowie eine Fortbildungsstätte von Nachwuchshistorikern verankert sein sollten, zu schaffen,
Enttäuschung bewirkt haben ; vgl. dazu Schaller, Tangl (wie Anm. 1) 215–223, und Fichtenau, Diplo-
matiker (wie Anm. 13) 44 : Die Gründung des Archivs für Urkundenforschung „war, vom Persönlichen her
gesehen, ein Abgesang auf große Pläne Kehrs und diejenigen zweier der Herausgeber, Tangl und Bresslau“.
Sie hatte, wie Fichtenau feststellte, „mehrere Väter : jene, die auf dem Titelblatt stammen, und dazu Paul
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 2
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 678
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien